Graswurzelrevolution
Mittlerweile ist bekannt, dass zum Jahreswechsel 2020/2021 das Konzept Rise mit heißer Nadel gestrickt wurde. Welchen Anteil daran der Ex-SAP-Chefstratege Anuj Kapur hatte, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Das Problem ist nicht der von Cisco abgeworbene Topmanager Kapur. Er ist nur eine weitere Anekdote im SAP-Personalkarussell. Das Problem ist die Vision, die das SAP-Topmanagement für das eigene Unternehmen hat.
Für die SAP’sche Vision gilt, was Helmut Schmidt einst postulierte: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ SAP ist ein globaler Konzern mit internationalen Kunden. Nach dem Abgang von Ex-Technikvorstand Vishal Sikka wurde umgehend die fehlende Internationalisierung im SAP-Vorstand kritisiert, der zeitweise nur aus alten deutschen Männern bestand. Die Geschlechterparität hat SAP mittlerweile hinreichend gut realisiert. Offen bleibt die Frage nach der Internationalisierung.
Mental wurde SAP im Mittelalter in Italien geboren. Dort entstand die doppelte Buchführung (Doppik), wer dieses System erfand, ist nicht geklärt, aber Luca Pacioli war der Erste, der die doppelte Buchführung schriftlich manifestierte. Es wird vermutet, dass Pacioli um 1445 in der Toskana geboren wurde. Er arbeitete bei einem reichen Kaufmann in Venedig und lernte so das Geschäft des Warenhandels kennen. Später trat er dem Franziskanerorden bei und lebte als Wanderlehrer. Als Professor war er an den damals führenden Universitäten Italiens tätig, in dieser Zeit dürfte auch das Werk über die doppelte Buchführung entstanden sein.
Gerne wird über die Komplexität des SAP’schen ERP diskutiert. Natürlich ist „SAP“ komplex, weil das System universell ist. Kein anderes betriebswirtschaftliches Computerprogramm hat eine vergleichbare Tiefe und Breite. SAP ERP kann mit Gottfried Wilhelm Leibniz, dem nach allgemeiner Ansicht letzten Universalgelehrten Europas, verglichen werden. Die europäischen Wurzeln von SAP reichen bis in die Gegenwart. In der Software stecken auch Wissen und Erkenntnis von Hans-Georg Plaut, dem Begründer der Grenzplankostenrechnung. Und noch viele weitere europäische Beispiele lassen sich finden.
Die Wurzeln des SAP’schen Erfolgs liegen für mich in Europa und dem über Jahrhunderte entstandenen betriebswirtschaftlichen Wissen. Wer diese Kultur nicht kennenlernen durfte, kann kein Chefstratege für SAP sein. Anuj Kapur ist über jeden intellektuellen Zweifel erhaben. Der Topmanager ist ohne Makel, es fehlt ihm aber der europäische Geist, der eine wesentliche Komponente des SAP-Universums ist. Ich habe mit Chefredakteur Färbinger über dieses Thema diskutiert, weil ich mir in meiner eurozentristischen Meinung nicht mehr ganz sicher war. Aber er hat mich bestätigt, weil er täglich den Unterschied zwischen der deutschsprachigen SAP-Community und der globalen SAP-Szene auf seinen beiden Websites e-3.de und e3zine.com beobachtet. Er betonte auch, dass es keine Wertung ist: Die englischen SAP-Beiträge auf reddit.com/r/SAP sind genauso wertvoll wie die deutschsprachigen Diskussionen im DSAG-Netz.
Wir brauchen einen Diskurs aus der SAP-Basis heraus – von den Graswurzeln. Peter Hartmann macht in der Schweiz mit seiner SAP-CIO-Interessensgemeinschaft perfekte Umfragen, die SAP als Richtungsempfehlungen und Strategien verstehen sollte. Auch unsere DSAG arbeitet intensiv an der Korrektur der SAP-Strategie. Ein aktuelles Thema: Weiterbestand von CCoE? Das CCoE, früher CCC, ist eine Erfolgsgeschichte für SAP und uns Bestandskunden: Mit einem zertifizierten CCC zahlten meine SAP-Stammtischschwestern und -brüder eine R/3-Pflegegebühr ausschließlich vom Netto-Lizenzpreis.
Die SAP-Community braucht eine Revolution der Basis. Eine Erneuerung durch uns Bestandskunden. Vielleicht eine Graswurzelrevolution. SAP braucht einen kritischen und konstruktiven Geist aus der SAP-Community, keinen Manager eines Beratungsunternehmens von Roland Berger, Boston Consulting oder Accenture. Vielleicht sollte die neue SAP-Strategie auch mehr aus dem Bauch der Community als aus dem Geist auf Vorstandsebene kommen? Aktuell findet die Softwareinnovation jenseits des SAP’schen Tellerrands statt. Keine guten Aussichten für uns SAP-Bestandskunden.