Es ist ein paradoxes Bild: SAP wirkt unverändert. Es wird programmiert, customized und beraten. Es gibt Meetings, Online-Veranstaltungen und eine 50-Jahres-Feier in der SAP-Arena in Mannheim mit nahezu 1000 Gästen und vielen Anekdoten aus der Vergangenheit. Es gibt in München eine Sapphire mit Invitation-only und naturgemäß ohne Analysten und Journalisten. Alles erscheint so wie in den vergangenen Jahren.
Eine genauere Analyse zeigt jedoch, dass sich nichts mehr bewegt bei SAP: Der Konzern erscheint eingefroren, bewegungslos und starr. Niemand tut wirklich etwas. Nichts Bedeutsames, Strategisches und Visionäres passiert. Die einzige Botschaft für die Zukunft lautet: Wir halten S/4 bis 2040 in der Wartung! Sonst tut sich nichts bei SAP und auch nur wenig in der SAP-Partnerlandschaft – aber Nichtstun ist keine Option! Ein Beispiel: Der beliebte und erfolgreiche SolMan braucht für das Cloud-Computing-Zeitalter einen Nachfolger. Theoretisch könnte ILM, Information Lifecycle Management, den SolMan beerben, aber seit drei Jahren gibt es keine Weiterentwicklung. ILM ist eingefroren, bewegungslos und starr. Es gibt SAP-Partner, die auf eine Auferstehung und Wiederbelebung warten und derweilen nichts tun, aber Nichtstun ist keine Option. Es gibt einen SAP-Partner, der eine ILM-Alternative realisiert hat und Anfang kommenden Jahres diese in der SAP-Community ausrollen wird.
Offensichtlich geht eine Lähmung von SAP aus, die mittlerweile große Teile der SAP-Partner-Community erfasst hat. Es erscheint wie ein gruppendynamisches Szenario: Wer blinzelt als Erster? Wer kommuniziert als Erster? Wer macht die erste Präsenzveranstaltung? Wer entwickelt eine postpandemische Markenbotschaft als Erster? Oder müssen wir nicht mehr miteinander kommunizieren? Sind Visionen und Storytelling nur Trugbilder und im Grunde ist ohnehin alles bestens?
Die schreibenden Kollegen von der WiWo haben ausgerechnet, dass SAP-Chef Christian Klein in den vergangenen zwei Jahren etwa 60 Milliarden Börsenwert vernichtet hat. Hätte sich der DAX ähnlich entwickelt wie die SAP-Aktion, müsste der Index aktuell bei etwa 8500 Punkten stehen. Bei SAP selbst und in der Partner-Community müssten demnach die Alarmglocken 24/7 läuten. Bei den SAP-Bestandskunden ist diese Krise bereits angekommen. Dort reagiert man und verifiziert neue IT-Quellen, weil die Anwender wissen, dass Nichtstun keine Option ist.
Es erscheint völlig rätselhaft, mit welcher Ruhe und Gleichgültigkeit Christian Klein und viele Geschäftsführer von SAP-Partnerunternehmen aktuell agieren. Während viele SAP-Bestandskunden über den bekannten Tellerrand blicken und dort interessante Logistik-, IoT-, KI- und HR-Angebote finden, für Letzteres siehe Coverstory dieser Ausgabe, erscheint vielen Mitgliedern der SAP-Community das Nichtstun als plausible Option.
Die SAP-Bestandskunden werden SAP-Bestandskunden bleiben, aber das Nichtstun von SAP und einigen Partnern wird sie zwingen, den Anteil an SAP-basierten Lösungen zu reduzieren – zum Vorteil von ServiceNow, Salesforce, Workday, Oracle, Microsoft, Google, IBM und AWS. Von den Rändern her wird das SAP-Hoheitsgebiet ausgehöhlt. Viele Funktionen, die früher sehr selbstverständlich von SAP geliefert wurden, kommen zukünftig von Mitbewerbern. Die bekanntesten Gebiete dafür sind Industrie 4.0, Logistik und künstliche Intelligenz. Jetzt zahlt SAP den Preis für das langjährige Nichtstun.