Mehrfache SAP-Niederlage
Vor vielen Jahren erlebten Predictive Analytics, KI und Machine Learning den ersten kommerziellen Höhepunkt. Schlaue Informatiker erkannten, dass teure Grafikkarten nicht nur für aufregende Computerspiele, sondern auch für das Schürfen von Kryptogeld und für KI mit dem Schwerpunkt Machine Learning ganz hervorragend sind. Die Preise für Grafikkarten von Nvidia und AMD explodierten, teilweise auf das Doppelte des Listenpreises.
Leonardo
Anlässlich dieser KI/ML-Pionierphase begannen die Hyperscaler spezifische KI-Funktionen über ihre Cloud-Angebote zu präsentieren. Auch SAP erkannte früh das Potenzial von KI, Machine Learning, Blockchain und IoT. Diese „Zukunftstechniken“ aus dem Bereich der Informatik wurden bei SAP mit dem Framework Leonardo zusammengefasst. Die Euphorie war groß! Der damalige SAP-Chef Bill McDermott meinte sogar, dass Leonardo einst mehr Umsatz bringen wird als das klassische ERP.
Auch ich war überzeugt und der E3-Verlag plante ein Leonardo-Monatsmagazin. Mehr als eine Pilotausgabe mit dem damaligen SAP-Technikvorstand Bernd Leukert schafften wir aber nicht. Bill McDermott setzte Bernd Leukert über Nacht vor die Tür und es folgte der aktuelle Technikvorstand Jürgen Müller, der bei Professor Hasso Plattner in Potsdam seine Doktorarbeit schrieb. Das Framework Leonardo siechte vor sich hin und wurde letztendlich abgekündigt und unser Magazin eingestellt.
Der Schwerpunkt bei SAP lag unter der Führung von Bill McDermott beim Vertrieb und nicht bei der Technik. Leonardo brachte naturgemäß am Beginn nur wenig Umsatz. Offensichtlich wurde das KI-Potenzial nicht erkannt. Die Investitionen in Leonardo waren gering und der Austausch mit den Bestandskunden über die Möglichkeiten marginal. SAP kann KI, IoT und Blockchain, aber ohne Elan und Begeisterung. Bestandskunden mit KI-Interesse wendeten sich von SAP ab und nutzten fortan die Services der Hyperscaler.
Maschinenhersteller und SAP-Bestandskunde Trumpf nutzte für eine erste ML-Anwendung dann auch nicht SAP Leonardo, sondern Funktionen aus der Microsoft Azure Cloud. Das Thema war vorbeugende Wartung mithilfe der Geräusche einer Werkzeugmaschine. Die Fragestellung war simpel: Wie realisiert man vorbeugende Wartung ohne physische Verbindung, etwa über ein LAN? Natürlich sind alle Trumpf-Maschinen netzwerkfähig. Aus Security-Gründen ist eventuell eine direkte Anbindung an den Support aber nicht gewünscht oder auch nicht möglich. Trumpf entwickelte eine App, die über das Mikrofon eines Mobiltelefons die Geräusche einer Werkzeugmaschine aufnimmt und darin nach Mustern für mögliche Gebrechen sucht. Diese Machine-Learning–Anwendung ist ein klassisches Beispiel für Predictive Maintenance und gehört theoretisch in das Leonardo-Framework.
Für den Leonardo-Teilbereich IoT war damals SAP-Managerin Tanja Rückert verantwortlich. Sie veranstaltete sogar einen eigenen IoT-Kongress in Frankfurt/M. mit Ex-SAP-CEO Professor Henning Kagermann als Ehrengast und geistigem Vater für Industrie 4.0 in Deutschland. Alles Interesse der Bestandskunden an KI, der engagierte IoT-Einsatz von Managerin Rückert, die Arbeiten von Technikvorstand Bernd Leukert halfen nicht, das SAP-Framework Leonardo vor dem Untergang zu retten.
Aktuelle Situation
Aktuell arbeitet Tanja Rückert als Bosch-IT-Chefin und plant, bis Ende dieses Jahres BoschGPT einzuführen. Der Industriekonzern setzt stark auf KI und Machine Learning. Das eigene Sprachmodell soll ähnlich funktionieren wie ChatGPT. Nachdem SAP die IT-Wissenschaftlerin Tanja Rückert an Bosch verloren hat, gibt es aktuell bei SAP den nächsten Know-how-Verlust zu vermelden: Die SAP-KI-Chefin Feiyu Xu hat den Dax-Konzern verlassen und wird sich auf ihr KI-Start-up konzentrieren. Offensichtlich konnte SAP-Chef Christian Klein ihr nicht das passende Umfeld und die Motivation bieten, weiterhin für den ERP-Weltmarktführer tätig zu sein. Vergleiche zwischen dem Abgang von Tanja Rückert und dem jetzigen Ausscheiden von Feiyu Xu drängen sich auf.
SAP-Chef Christian Klein hat ein Problem: Der ERP-Weltmarktführer verliert den Anschluss an zukünftige Innovationsthemen. Entweder organisieren die SAP-Bestandskunden die eigene Digitalisierung mit Lösungen und Produkten anderer IT-Anbieter oder aber die fähigsten Mitarbeiter verlassen SAP, weil es woanders bessere Arbeitsbedingungen gibt. Christian Klein versucht den Anschluss mit Partnerschaften, Kooperationen und Beteiligungen zu halten. Mittelfristig werden diese Versuche aber nicht ausreichen. Eigene Kompetenz im Bereich KI, Machine Learning und IoT sowie vielen weiteren Feldern der Informatik wird für SAP zur Überlebensstrategie. Eine S/4-Wartungszusage bis 2040 für ausgewählte SAP-Cloud-Kunden ist keine Antwort auf die drängenden Zukunftsfragen.