Blutarmut und Inzucht
Meine Frau nimmt Christian Klein in Schutz, den sie immer schon als sehr sympathisch empfand. Sie hat recht. Der neue Alleinherrscher bei SAP ist brillant, umgänglich und durchsetzungsfähig. Alles bestens, oder?
Man muss kein Hellseher sein oder eine dieser berühmten Glaskugeln besitzen, um zu erkennen, dass diese Machtkonzentration in der SAP-Zentrale Walldorf und der sehr kleine, überwiegend deutschsprechende Vorstand nicht geeignet sind, um die globalen Herausforderungen zu lösen.
Es war einst besser: Der SAP-Vorstand war nicht nur größer, sondern auch internationaler. Aus Israel kam Ex-Technikvorstand Shai Agassi, unter anderem mit „TopManage“ im Gepäck – das spätere SAP Business One.
Ihm folgte Vishal Sikka, Inder mit abgeschlossenem Mathematikstudium in Stanford, USA, und Gründer zweier erfolgreicher Start-ups. Da gab es den Südafrikaner Rob Enslin, die US-amerikanischen Managerinnen Jennifer Morgan und Adaire Fox-Martin, den dänischen Kurzzeitvorstand Lars Dalgaard und natürlich Jim Hagemann Snabe und Bill McDermott.
Der SAP-Vorstand war nicht immer brillant, aber immer multikulturell – eine globale Gemeinschaft für eine globale Community!
Man spricht Deutsch: Nun wird SAP von jungen Männern geführt, die großteils im Schatten der SAP-Bürotürme in Walldorf aufgewachsen sind: Christian Klein, Thomas Saueressig, Luka Mucic und aus Berlin kommt Jürgen Müller.
Viel von der Welt außerhalb des SAP-Imperiums haben diese talentierten Leute noch nicht gesehen. Bei aller Bewunderung meiner Frau für die nächste Generation an Topmanagern befällt mich die Furcht vor „Blutarmut und Inzucht“.
Auch andere Mütter haben schöne Töchter, sagt man. Bei SAP scheint jedoch Inzucht angesagt. Während Topmanager in den vergangenen Jahren scharenweise SAP verließen, ist mir kein relevanter Zuzug bekannt.
Eine Auswahl der spektakulärsten Abgänge: Co-CEO Jim Hagemann Snabe ging als Aufsichtsrat zu Siemens. SAP-Leonardo-Managerin Tanja Rückert ging zu Bosch. SAP-TechEd-Superstar Björn Goerke nahm Abschied und ein Jahr Auszeit.
SAP-Manager Marcell Vollmer ging zu Celonis. SAP-Manager Edmund Frey zu Spryker. Technikvorstand Bernd Leukert zur Deutschen Bank. Cloud-Vorstand Rob Enslin zu Google.
Diese Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen und eine Entschuldigung an die zahlreichen SAP-Topmanager, die nun erfolgreich woanders arbeiten und die ich hier nicht erwähne.
Aber wer kam von international erfolgreichen Technologiekonzernen nach Walldorf zur SAP? Ein Aufruf an die SAP-Community: Bitte schreiben Sie mir, wenn Sie jemanden kennen, der einst für ein bekanntes IT-Unternehmen arbeitete und nun bei SAP in einer Topposition ist.
Ich lernte Stefan Batzdorf in Walldorf kennen, der fast in mein gesuchtes Profil passt: Von SAP ging er zu Infosys und nun wieder als CTO S/4 Hana zurück zu SAP. Ich bin beunruhigt, wenn keine neuen Ideen, Anregungen und Strategien von außen in den ERP-Weltmarktführer diffundieren. „Blutarmut und Inzucht“ sind keine guten Voraussetzungen für die anstehenden Herausforderungen.
SAP-Chef Christian Klein scheint dieses Defizit ansatzweise erkannt zu haben: Er plant nach dem überraschenden Abgang von Co-CEO Jennifer Morgan zukünftig mehr in den USA präsent zu sein. Mit Privatjet und Mundschutz könnte dieses Vorhaben gelingen.
Aber wer kümmert sich dann um den asiatischen Bereich, Indien, China und Japan? Wer soll im SAP-Vorstand für Marketing, Kommunikation und Vertrieb verantwortlich sein? Der mögliche Fachkräftemangel in der digitalen Transformation wird ohne Personalvorstand nur schwer zu administrieren sein.
Es mag extreme Situationen geben, wo die ganze Macht auf wenige Vorstände konzentriert werden muss. Ungarns Premierminister Viktor Orbán hat es vorgemacht und de facto sein Parlament ausgeschaltet.
Ob das eine erfolgreiche Strategie für die Zukunft sein kann, wird sich sowohl in Ungarn als auch in Walldorf erst weisen müssen. Ich bezweifle diese antidemokratischen Entwicklungen. Mir sind ein globaler SAP-Vorstand und eine internationale SAP-Community wesentlich sympathischer.