Lesen, nachdenken, handeln
Mich fasziniert an dieser Episode die stringente Abfolge von Lesen, Nachdenken und Handeln. Mit Verweis auf meinen Beruf des Schreibens sage ich oft und gern, SAP-Chef Christian Klein arbeitet zu viel und liest zu wenig. Vor wenigen Tagen bestätigte mir ein SAP-Mitarbeiter wieder einmal, dass das Unternehmen in einer Echokammer lebt – vollkommen isoliert von der Außenwelt.
Im Sommer 2019 hatte ich mit Christian Klein ein Interview und sprach ihn auf den desolaten Zustand von Hana an: Die Patches kommen in immer kürzeren Abständen und der Support verweigert die Hilfe, wenn nicht alle Updates – bis zum letzten – eingespielt sind. Christian Klein konterte, dass er nur Gutes und Erfolgreiches von Hana höre.
Natürlich hatten wir beide recht: Meine Gesprächspartner sind Basisadministratoren wie auch CIOs und einem Journalisten, der nur wenig Ahnung hat, erzählt man manchmal auch die Wahrheit. Die Gesprächspartner von Christian Klein befinden sich überwiegend auf Vorstandsebene mit ihrer eigenen Echokammer. Wenn Echokammer auf Echokammer trifft, bleibt die Wahrheit auf der Strecke.
Die Entscheidung von Jürgen Habermas, einen 225.000-Euro-Preis aus den Arabischen Emiraten zuerst zu akzeptieren und dann abzulehnen, soll jeder für sich bewerten. Eine Gruppe meint, dass damit der Dialog zwischen Okzident und Orient gefördert und damit die demokratische Entwicklung positiv beeinflusst werden kann.
Dem gegenüber steht eine Gruppe, die befürchtet, dass die Preisverleihung ein Feigenblatt für ein antidemokratisches System werden könnte. Als Journalist muss ich mich auf die Seite der Befürworter eines Dialogs stellen. Im Fall von Hongkong und der dortigen Demokratiebewegung scheint der Dialog mit China keine Spuren zu hinterlassen. Vielleicht dachte Jürgen Habermas letztendlich ähnlich.
Für alle gilt, dass der Akt des Lesens, des Nachdenkens und des Handelns von Habermas nahezu einzigartig ist. Lesen und danach denken, also das Aufgenommene reflektieren, um daraus Handlungsanweisungen zu generieren, klingt logisch, ist aber kaum noch vorhanden. Ohne Sarkasmus muss daher die Frage gestellt werden: Was liest Christian Klein und worüber denkt er nach?
Momentan ist Klein in der SAP’schen Echokammer gefangen. Bildhaft wurde es bei der Präsentation „Rise with SAP“: in einem virtuellen Raum, der hinsichtlich Geschmacklosigkeit und Antiquiertheit kaum zu überbieten war (offener Kamin, Plüschteppich, unberührte Natur mit Andeutung amerikanischer Nationalparks vor den Fenstern etc.). Wer diese Kritik nicht versteht, möge sich eine beliebige Apple-Präsentation von Tim Cook aus den vergangenen zwölf Monaten ansehen – und der SAP-Campus in Walldorf ist diesbezüglich der -Apple-Architektur definitiv gleichwertig.
Christian Klein arbeitet zu viel und vernachlässigt seine ungefilterten und nicht kontrollierbaren Außenkontakte. Naturgemäß darf er nicht auf seine Personenschützer verzichten, aber nur mit ausgewählten Bestandskunden oder der Spitze des Anwendervereins DSAG zu diskutieren ist zu wenig. Aus Dankbarkeit für einen neuen, offenen Dialog sollte die SAP-Community dann S/4-Lizenzen erwerben, genauso, wie wir jetzt, aus Respekt und Anerkennung, Jürgen-Habermas-Bücher kaufen müssen.