Geführte SAP-Struktursynchronisierung


Bei Tadano geht es im sprichwörtlichen Sinn oft hoch hinaus: Seit rund 75 Jahren spielen die Hebemaschinen und Krane der in Japan ansässigen Unternehmensgruppe weltweit eine wichtige Rolle beim Bau von Bürohochhäusern, Autobahnen oder Windkraftanlagen. Im Unternehmen ist man stolz auf Hebezeuge, die so konstruiert sind, dass sie auch unter den härtesten Einsatzbedingungen zuverlässig arbeiten. Mit Standorten in Zweibrücken und Lauf an der Pegnitz, und rund 1800 Mitarbeitern, ist Tadano auch in Deutschland vertreten. Die Standorte gelten als Kompetenzzentrum für die Entwicklung und Fertigung der Tadano All-Terrain-, City- und Raupenkrane. Entstanden ist die Präsenz aus der früheren Akquisition zweier Kranhersteller – Faun und Demag.
Im Rahmen der Integration der Demag in die Tadano-Unternehmensgruppe startete im Oktober 2020 das „One ERP“-Projekt, im Zuge dessen die ERP-Systeme der beiden Standorte zu einem konsistenten Ganzen harmonisiert und für die zukünftigen Anforderungen fit gemacht werden sollten. Mit dem Harmonisierungsprojekt kamen nicht nur die ERP- und SAP-Systeme der beiden Standorte, sondern auch die entsprechenden Prozesse auf den Prüfstand. Das übergreifende Ziel: eine nahtlose Koordination und Zusammenarbeit zwischen allen vor- und nachgelagerten Prozessen und Funktionen.
Im Fokus: Stücklistenmanagement
Als einer der Fokuspunkte kristallisierte sich das Stücklistenmanagement heraus: Dessen effizientes Handling war angesichts der Daten-Komplexität bei Tadano entscheidend für die Sicherstellung von Qualität, Kosten und Effizienz. Bis dato operierten die deutschen Standorte auf Basis des Single-BOM-Ansatzes: Konstruktion und Fertigung verwalteten sämtliche Stücklisten-Daten und -Informationen in einer Stückliste. Eine Herausforderung für alle war die Tatsache, dass beide Seiten prozessbedingt unterschiedliche Anforderungen an Struktur, Umfang und Art der Informationen haben, die die Stücklisten enthalten sollten. Komplexe Abstimmungsprozesse und Konflikte waren vorprogrammiert.
Geführte Struktursynchronisierung
Die avisierte Lösung: ein Wechsel von einem Single-BOM-Ansatz im Stücklistenwesen hin zu einem eBOM- (engineering BOM) und mBOM-Ansatz (manufacturing BOM), sprich der Bildung von Konstruktions- und Fertigungsstückliste. Damit sollte der funktionsorientierten Konstruktions- und der prozessorientierten Fertigungssicht auf die Produkte optimal Rechnung getragen werden. Zur Unterstützung dieses Szenarios setzte man auf SAP GSS als technologische Lösung: Mit der „Geführten Struktursynchronisierung“ (GSS) können Quellstrukturen aus einem Anwendungsbereich, zum Beispiel Konstruktion, in Zielstrukturen eines anderen Anwendungsbereichs, zum Beispiel Fertigung, überführt werden.
GSS unterstützt einen fortlaufenden Synchronisierungsprozess, berücksichtigt bei jeder Synchronisierung die Änderung von Strukturen und aktualisiert die Zielstruktur. Damit sollte also nicht nur die Stücklistentrennung, sondern auch das Handover to Manufacturing optimal angegangen werden. Mit dem eBOM- und mBOM-Ansatz verknüpfte man bei Tadano nicht nur rein operative Maßgaben. Der Change sollte auch übergreifende, strategische Ziele unterstützen: eine höhere Prozesseffizienz durch einen jeweils besseren Prozess-Flow in Konstruktion und Fertigung; die Verbesserung der Time to Market durch schnellere und qualitativ bessere Ergebnisse der beiden Bereiche; sowie eine Verbesserung der Zusammenarbeit durch höhere Autonomie der Teams in Konstruktion und Produktion. Dies sollte zudem den Prozessaufwand im Gesamtunternehmen minimieren.
„Wir kannten unsere Herausforderungen und hatten eine klare Zielsetzung in Bezug auf Technologie und Ergebnis. Doch es war ebenso klar, dass wir im Rahmen der Umsetzung einen starken Partner brauchten, der uns sicher durch den Prozess der Implementierung und auch Migration bringt“, erklärt Thorsten Hemmer, IT-Projekt-Manager. „Die Expertise von Coristo (einem Tochterunternehmen der Cenit) auf dem Gebiet SAP GSS war uns bekannt, und so kamen wir direkt zusammen“, fügt Thorsten Hemmer hinzu.

Thorsten Hemmer, IT-Projekt-Manager, Tadano
Trotz Vertrauensvorschuss erarbeitete Coristo eine Machbarkeitsstudie, um die Umsetzbarkeit spezifischer Aspekte unter Beweis zu stellen. Hemmer erklärt dazu: „Vor dem Projektstart kristallisierten sich für uns drei wesentliche Herausforderungen heraus: die Erstellung unterschiedlicher Listen, sprich mBOM und eBOM, aus einer Single BOM sowie die Migration der Daten in die neue Architektur. Hinzu kam, dass wir mit parametergültigen Bewertungen in der Stückliste arbeiten. Diese Funktionalität gehört bei SAP GSS allerdings nicht zum Standard. Aus technologischer Sicht erforderte es also einen Beweis, dass auch dieser Aspekt umsetzbar ist.“
In vier Wellen zum Ergebnis
Um das angestrebte Einführungs- und Migrationsprojekt technologisch und prozessual optimal umzusetzen, gliederte sich der Ablauf in vier Projektphasen „vier Waves“ – wie es im Sprachgebrauch der Projektbeteiligten hieß. Zu jeder Welle gehörten zu erreichende Ziele und Meilensteine. Der Hauptfokus der ersten Welle lag auf dem konzeptionellen Aspekt: „Es ging im Wesentlichen um die Vorbereitung der Einführung von SAP GSS und die genaue Definition entsprechender Toolfunktionalitäten“, erinnert sich Thorsten Hemmer.
In dieser Phase fand parallel auch die genaue Betrachtung des eBOM-mBOM-Prozesses statt – hier ging es insbesondere um die Prozessdefinition und die Ermittlung kritischer Use Cases bei Tadano. Ein für alle Beteiligten wichtiger Prozessabschnitt war die Migration der Stücklisten, die Gegenstand der zweiten Prozess-Welle war: Hier fand somit die tatsächliche Einführung einer eBOM-mBOM-Trennung bei Tadano statt. Wichtig hierbei war unter anderem die Berücksichtigung spezifischer Konstellationen zwischen eBOM und mBOM bei der Erstellung des Mappings, die softwareseitige und prozessuale Begleitung des Migrationskonzeptes sowie die Konsolidierung der e- und mBOMs im Zielsystem. „Die Migration war ein halbes Jahr lang ein intensives Thema“, erklärt Christian Markus, Senior-PLM-Berater bei Coristo. Denn diese Phase war entscheidend für den Erfolg des Gesamtprojekts.
Das anschließende Testing, eine ausführliche Untersuchung der Anwendungsfälle im Gesamtprozess, markierte die dritte Phase im Projekt. Hier widmeten sich die Experten von Tadano und Coristo der Definition von spezifischen Testfällen, dem Testing selbst sowie der anschließenden Dokumentation. Das erklärte Ziel dieser Phase: eine Optimierung von definierten Prozessen und Tools. Zentrale Use Cases, wie Massenänderungen, korrespondierende Anträge, Szenarien zu Split-Positionen, und deren Konfliktbehandlung kamen dabei verstärkt unter die Lupe.
Beim Testing kristallisierten sich sukzessive weitere Anforderungen und Spezifikationen heraus, die auch in der Softwarelösung Eingang finden mussten. „Auch in diesem Fall vertrauten wir stark auf die Expertise und Beratung von Coristo. Es ist nicht damit getan, die GSS zu implementieren. Für spezifische Anforderungen und Use Cases galt es, die Software gesondert zu befähigen“, stellt Thorsten Hemmer fest. „Wir haben tatsächlich noch einiges an Entwicklungsarbeit rund um die Lösung GSS geleistet. Dabei haben wir an relevanten Stellen in die Funktionen der Lösung eingegriffen und mit entsprechenden Reports flankiert.
Dies, um die Prozesse rund um die Stücklisten und deren Monitoring bei Tadano optimal zu erfassen. 70 bis 80 Prozent der Anpassungen betrafen User und Prozesse“, fasst Christian Markus zusammen. Da der Mensch als User eine entscheidende Rolle für den Projekterfolg spielt, widmete das Projektteam besondere Aufmerksamkeit der Schulung und der „Mitnahme“ der zukünftigen Anwender von SAP GSS. Es ging nicht nur um die Einführung eines neuen Stücklistentyps, sondern auch darum, dass die Pflege der Fertigungsstücklisten historisch in der Konstruktion verankert war. Diese Tätigkeit ging mit der Migration in das eBOM-mBOM-Szenario an die Abteilung Arbeitsvorbereitung über. Nicht nur Prozesse änderten sich, sondern auch die Aufgabenverteilung in den Prozessen.
User im Mittelpunkt
„Es war uns wichtig, dass die Kollegen das Tool akzeptieren. Denn mit der Auflösung des Single-BOM-Ansatzes und der Einführung der eBOM- und mBOM-Listen war ein Umdenken notwendig. Parallel galt es, dieses neue Denken auch in einem neuen Tool umzusetzen. In diesem Change-Prozess waren Themen wie Akzeptanz und Usability enorm wichtig für uns“, bestätigt Thorsten Hemmer.
Rund ein Jahr nach Start der Zusammenarbeit zwischen Tadano und Coristo folgte das Go-live von SAP GSS und dem eBOM-mBOM-Konzept. Aufgrund der vorab erfolgten detaillierten Projekt-Vorbereitung und -Umsetzung gelang dem Projektteam ein First-time-right-Ergebnis. „Anschließend betreuten wir Tadano rund zwei Monate im Hypercare-Modus und sind bis heute beratend im Geschäftsalltag aktiv. Wir arbeiten weiter an Prozess- und Toolverbesserungen zusammen, wenn auch ohne den Druck eines Go-live“, resümiert Christian Markus.
Stücklistentrennung und SAP GSS
Rund 15 Monate nach Einführung interessiert der aktuelle Stand der Themen GSS und Stückliste: Haben sich die Erwartungen an das Projekt erfüllt, wurden die Ziele erreicht? „Die Vorteile der Einführung von SAP GSS und der Stücklistentrennung reichen weit über die technologische Neuerung hinaus: Da eine Stückliste der Dreh- und Angelpunkt bei unseren Produkten ist, ist die Einführung von eBOM und mBOM zentral für eine zukunftsfähige Produktion gewesen und ist heute ein wichtiger Bestandteil. Alles, was von der Konstruktion kommt, muss über SAP GSS“, so das erste Resümee von Hemmer.
Allerdings, betont er, beschäftigte das Change-Management natürlich auch nach dem Go-live die Abläufe. „Wichtig für den Projekterfolg sei neben der softwareseitigen und prozessualen Kompetenz die von Anfang an gegebene, aktive Einbindung aller betroffenen Fachbereiche gewesen, insbesondere der Arbeitsvorbereitung“, so Thorsten Hemmer weiter. Die Einführung von SAP GSS bedeutete für die Bereiche Konstruktion, Fertigung und Arbeitsvorbereitung eine enorme Umstellung. Heute sei SAP GSS aber nicht wegzudenken und ist einer der Kernpfeiler für die Produktion.
Eines der weiteren Ergebnisse: Im Regelbetrieb profitieren die Teams von einer deutlichen Reduzierung von technologischen und prozessualen Schnittstellen. Einerseits kommt dies klar dem übergreifenden „One ERP“-Prinzip zugute, dem einen unternehmensweit genutzten ERP-System. Zum anderen erkennen die beteiligten Teams, dass nicht nur die Trennung der Strukturen Freiheitsgrade und qualitative Verbesserungen mit sich bringt, sondern auch die Tatsache, dass nun klare Rollenzuweisungen entsprechend den Strukturen existieren.
Ein Beispiel: „Durch die Trennung von eBOM und mBOM lassen sich Freigaben aus der Konstruktion vom Einlaufzeitpunkt einer Änderung in der Produktion trennen. Beide Fachbereiche können nun mit geringerem Abstimmungsaufwand effizienter arbeiten“, so Thorsten Hemmer. Allerdings sei man rund anderthalb Jahre nach Go-live tatsächlich so weit, praktisch zu erfahren, welcher Nutzen durch das Projekt entstanden ist. Erst jetzt stimmten Abläufe, könnten Verbesserungen greifen und Vorteile ausgebaut werden.