Ein Standard für die Zukunft
Interview mit Christoph Granig, GTW und Markus Hägele, Schweizerische Post
Die Schweizerische Post beschreitet mit großen Schritten den Weg in die digitale Transformation. Neben dem klassischen Brief- und Paketversand umfassen zahlreiche weitere Dienstleistungen das breit gefächerte Service-Portfolio. Je flexibler die Dienstleistungen, desto flexibler müssen diese auch abgerechnet werden. So bringen Software-as-a-Service (SaaS), On-Demand-, Sharing-Dienste oder E-Mobilität ganz eigene und vor allem neue Abrechnungsmodelle hervor. In einem richtungsweisenden Digitalisierungsprojekt mit SAP und dem internationalen Beratungsunternehmen GTW rüstet sich die Schweizerische Post jetzt für die Zukunft. Alte IT-Zöpfe sollen abgeschnitten und Werteflüsse harmonisiert werden. Ebenso sollen neue Digital Services künftig flexibel in klassische monetäre Prozesse integriert werden können. Abgerechnet wird dann ähnlich kundenfreundlich wie bei den Cloud-Diensten, etwa nach Mietzeitraum oder tatsächlicher Nutzungsdauer. Und mit SAP BRIM wurde jetzt auch eine sehr leistungsfähige Lösung gefunden, die dies bereits im Standard abbilden kann.
Herr Hägele, als Teamleiter Finanzlösungen müssen Sie bei der Schweizerischen Post den Überblick über die Wert- und Warenflüsse behalten. Das ist sicherlich keine ganz so leichte Aufgabe?
Markus Hägele, Schweizerische Post: Bei über 200 Millionen Paketsendungen, rund 25 Millionen importierten und verarbeiteten Kleinwarensendungen sowie fast zwei Milliarden Briefzustellungen im Jahr fallen natürlich massenhaft Abrechnungsdaten an. Ganz gleich, ob diese nun direkt über die rund 800 eigenbetriebenen Filialen oder über einen der fast 5000 Zugangspunkte inklusive Filialpartnernetz verrechnet werden, es ist und bleibt eine echte Herausforderung. Wir setzen deshalb voll und ganz auf Automatisierung und versuchen diesbezüglich sämtliche digitale Mittel voll auszuschöpfen. Gerade was neue, disruptive Geschäftsmodelle anbelangt, ist es für uns überlebenswichtig, schnell, offen und innovativ zu sein. Die Basis hierfür ist eine moderne, zukunftsfähige IT, die es uns auch ermöglicht, klassische Werteflüsse um neue Dienstleistungen und Abrechnungsmodelle zu erweitern.
V. l. Christoph Granig, Manager und Principal Solution Architect, GTW, und Markus Hägele, Teamleiter Finanzlösungen, Schweizerische Post.
Von Banken kennt man ja, dass kaum Standards genutzt werden. Die IT gleicht dann schon mal einem historischen Monument, an dessen Sanierung sich keiner so richtig herantraut. Mit SAP und dem Beratungsunternehmen GTW hat die Schweizerische Post einen ständigen Digitalisierungspartner und Modernisierer an der Seite. Welche Ziele verfolgen Sie aktuell und auf welche Bordmittel und Werkzeuge verlassen Sie sich im Tagesgeschäft?
Hägele: Bereits vor einigen Jahren hatten wir den Umstieg von SAP ECC auf S/4 Hana eingeläutet. Da für manche Postdienstleistungen neben SAP SD zusätzlich diverse vorgelagerte Fakturierungssysteme zum Einsatz kamen, sollten diese ebenfalls nach und nach zentralisiert und harmonisiert werden. Im Rahmen dessen fiel dann auch der Entscheid auf SAP BRIM als zentrales Abrechnungs- und Fakturierungssystem. Sich verändernde Kundenanforderungen lassen sich so besser und schneller umsetzen und größere Datenmengen lassen sich sehr effizient und performant verarbeiten. Auf diese Weise nehmen wir gleich eine ganze Reihe vorgelagerter Systeme aus den Prozessen und können aus einem Standard heraus flexibel auf neuartige Bezahl- und Abrechnungsmodelle reagieren.
Derartige Großprojekte laufen selten in Time, in Budget und in Quality. Wie gelingt es Ihnen, dass Ihr Projekt über einen solch langen Zeitraum koordiniert läuft und sich nicht zur Kostenfalle entwickelt oder gar scheitert?
Hägele: Wir verfolgen einen iterativen Ansatz, nehmen uns immer wieder kleine Ziele vor und versuchen, diese agil umzusetzen. Grundsätzlich gilt: Der Weg ist das Ziel und Augen auf bei der Partnerwahl. Im Fall von SAP BRIM haben wir mit GTW einen kompetenten SAP-Gold-Partner auf Augenhöhe gefunden. Ausschlaggebend waren eine über 20-jährige Expertise in diesem Bereich sowie diverse erfolgreiche und große BRIM-Einführungsprojekte bei anderen Schweizer Großkunden – zuletzt etwa bei der Schweizer Bundesbahn. Eine solche Referenz spricht sich natürlich sehr schnell herum im überschaubaren Schweizer SAP-Umfeld. Und nach dem ersten Zusammentreffen war uns dann eigentlich auch allen klar, dass GTW sowohl das entsprechende Know-how als auch ausreichend Manpower für ein Projekt dieser Größenordnung zur Verfügung stellen kann.
Christoph Granig, GTW: Als internationales IT-Beratungsunternehmen mit Fokus auf Massenkundenabrechnung mittels SAP BRIM sind wir Ende 2018 im Projekt HWF ongeboardet worden. HWF steht für Harmonisierung der Werteflüsse und genauso komplex, wie es vielleicht klingt, ist es auch. Die Harmonisierung erreichen wir in dem Fall ganz klar über Standardisierung und die Nutzung der flexiblen End-to-End-Offer-to-Cash-Lösung SAP BRIM. Wir starteten zunächst mit zwei kleineren Projekten im Bereich B2B, um das System aufzubauen und das Fach an die neue Software heranzuführen. Anfang 2022 konnten wir nun den Bereich Logistikservices auf SAP BRIM live setzen, wo richtig viele Massendaten im Bereich B2C und B2B generiert und abgerechnet werden müssen. Aktuell sind wir am Abarbeiten der Restanzen- und Optimierungsliste und haben nebenbei schon wieder das nächste Großprojekt zur Ablösung des zentralen Stammdaten- und Fakturierungssystems gestartet.
Herr Hägele, ab wann waren Sie davon überzeugt, dass eine Standardlösung wie SAP BRIM der richtige Weg für die Zukunft sein kann?
Hägele: SAP BRIM hat sich im Telekommunikationsmarkt bereits vielfach bewährt, die monetären Prozesse im Postgewerbe funktionieren ähnlich und sind auch genauso umfangreich. Allein im Gewerbekundenmarkt kommt bei uns jährlich über eine Million Rechnungen zusammen. Das Geschäftsvolumen ist also enorm und dementsprechend ist auch die Verarbeitung extrem anspruchsvoll. Es gibt unterschiedliche Preise und Rabattstrukturen. Gäbe es nicht BRIM, müssten wir mehrere Systeme um den Prozess herumbauen, um diese Masse an Daten bewältigen zu können. Wir sehen das auch bei anderen Postgesellschaften, die das von der Performance einfach nicht mehr in den Griff bekommen, denen läuft bei der Fakturierung schlichtweg die Zeit davon.
Und wie haben Sie Ihr Team und die einzelnen Fachbereiche für dieses Projekt sensibilisiert? Musste nebenher viel Überzeugungsarbeit geleistet werden?
Hägele: Wichtig ist meines Erachtens eine solide Kenntnis sowohl der Ist- als auch der Soll-Prozesse. Diese sollte bei allen Projektbeteiligten vorhanden sein, ebenso wie der Wille, eine Sache zum Positiven verändern zu wollen. Natürlich müssen wir von IT-Seite auch die nötigen Impulse setzen und den Kollegen im Fach einen Eindruck des späteren Nutzens vermitteln. Im Projekt selbst ist es dann wichtig, dass man realistisch bleibt und eher in kleinen Etappen denkt, sich also nicht zu viel auf einmal vornimmt.
Granig: Wir kennen es bereits aus anderen Kundenprojekten, dass sich die Beteiligten viel zu viel in zu kurzer Zeit vornehmen. Die Projektziele können dann zumeist nicht erfüllt und die Akzeptanz bei den Anwendern nicht aufgebaut werden; das Projekt droht zu scheitern. Wichtig ist es, schnell kleinere Erfolge zu erzielen und die Anwender gezielt während der Einführung an die neue Lösung heranzuführen. Gemeinsam haben wir deshalb eine Mischung aus SAFe-Ansatz und Scrum-Methode gewählt. Allein im Bereich Logistikservices ist es uns auf diese Weise innerhalb eines Jahres gelungen, fünf große Projekte live zu setzen. Ein solcher Erfolg schafft Vertrauen und auch die anderen Fachbereiche werden neugierig und wollen die neue erprobte Lösung einsetzen.
Hägele: Vor allem dort, wo operativ gearbeitet wird, etwa im Servicecenter, ist eine solche Einführung immer eine Riesenumstellung für alle Beteiligten. Die Anwender sind dann meist skeptisch und fürchten, dass das mit dem neuen System nicht mehr so gut funktionieren wird wie im alten. Wichtig ist an diesen Stellen immer ein gutes Change-Management, das auch von den Führungskräften getragen wird. Ein wesentlicher Teil davon sind Schulungen, sowohl allgemeine als auch vertiefende. Für die Entwicklung dieser hatten wir ein eigenes Team aus externen Schulungsexperten und interner Prozessmanagerin, welches sich ausschließlich darum gekümmert hat.
Die haben dann beispielsweise eigene Unterlagen entwickelt. Auch hatten wir seitens GTW immer einen Fachexperten an der Seite, der in den Meetings mit den Fachbereichen technische Details erläutern konnte. Es war für die Akzeptanz sehr wichtig, dass wir die Kapazitäten auf genügend Schultern verteilen konnten. Anfang des Jahres konnten wir ein paar ganz wichtige Prozesse live schalten, etwa im Bereich Verzollung. Das sind zirka 10.000 Transaktionen am Tag. Das ist ein äußerst kritischer Prozess bei uns. Wenn hier irgendetwas falsch läuft, dann können wir die Zollgebühren nicht einziehen oder es stauen sich die Pakete an den Zollstellen. Dass das so gut geklappt hat, ist letztendlich ausschlaggebend dafür, dass wir auch an den operativen Knotenpunkten viel Vertrauen für unser Projekt ernten konnten.
Und noch am Schluss des Interviews: Was raten Sie Unternehmen, die vor einem ähnlich großen Projekt stehen?
Hägele: Intern ist sicherlich ein hohes Maß an Kollegialität Voraussetzung für den Erfolg. Gute Ernte wächst auf gutem Boden. Daher ist es wichtig, dass ein gewisser arbeitskultureller Teamgeist vorherrscht. Ist dieser nicht gegeben, kann das Gefüge bei höherer Beanspruchung ganz schnell auseinanderbrechen, sodass am Ende das ganze Projekt gefährdet ist. Bei so einem Projekt sollte man auch berücksichtigen: Die wenigsten Dinge funktionieren beim ersten Mal. Hier gilt, nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern gemeinsam nach einer Lösung zu suchen.
Granig: Im Fall der Schweizerischen Post kann ich sagen: Alle Mitarbeiter im Programm HWF haben wie ein Schweizer Uhrwerk zusammengearbeitet. Zu Hochzeiten waren es ein paar Hundert Leute, die in den vielen Teilprojekten involviert waren und vom Programmmanagement koordiniert werden mussten. Es herrschte eine Hands-on-Mentalität und alle zogen gemeinsam an einem Strang. Egal ob SAP, Beratungshaus oder interne Mitarbeiter, man konnte auf jeden zugehen und man hat sich gegenseitig unterstützt. Essenziell für den Projekterfolg dieses Mammutprojekts war neben den eingesetzten Ressourcen vor allem auch das Commitment des Topmanagements, welches die Transformation voll mitgetragen und jederzeit unterstützt hat.
E-3: Danke für das Gespräch.