Bravo-Scherenschnitt
Ich war Fan von Alice Cooper und Suzi Quatro, Letztere gab es eines Tages als Scherenschnitt in Lebensgröße. Suzi ist eine gute Musikerin, aber kein Riese, und so hatte ich schon nach wenigen Ausgaben mein Idol im engen schwarzen Lederoverall an der Wand hängen. Aufregend! Immerhin war der Reißverschluss an der Vorderseite gut zwanzig Zentimeter geöffnet.
Heute müsste der Reißverschluss bis mindestens zehn Zentimeter unter dem Nabel offen sein, um Aufmerksamkeit zu erregen. Die Wahrnehmung und die Begierden haben sich geändert. Offensichtlich aber nicht bei SAP in Walldorf – hier hängt man immer noch in der Zeitschleife der Scherenschnitte.
Als vor nicht ganz zwei Jahren S/4 in New York, USA, präsentiert wurde, versprachen Hasso Plattner, Bill McDermott und Bernd Leukert ein neues ERP auf Basis der In-memory-Computing-Datenbank Hana. Der erste Wurf war eine gewaltige Enttäuschung: Aus dem bekannten „Simple Finance on Hana“ wurde S/4 Finance – letztendlich ein innovatives Add-on für SoH, die SAP Business Suite 7 on Hana.
Mit S/7 auf der SAP–Hana-Datenbank und einigen innovativen Buchhaltungsprogrammen begann die unglückselige S/4-Odyssee. Wie ein Bravo-Scherenschnitt liefert seit eineinhalb Jahren SAP ein S/4-ERP in kleinen Portionen aus. Aus Sicht des Anwenders sind es lediglich Add-ons zu seiner existierenden ERP/ECC-6.0- und NetWeaver–Plattform. Zum Nachteil vieler Bestandskunden können diese S/4-Add-ons jedoch nur genutzt werden, wenn der SAP-Bestandskunde vorab bereit war, von S/7 mit AnyDB auf SoH (Suite on Hana) zu wechseln.
Für das neue ERP-Glück braucht man also nicht nur Geduld – irgendwann 2020 sollen alle Scherenschnitte (Add-ons) für S/4 bereitliegen –, sondern auch die Datenbank Hana. Alle Betriebskonzepte, Schulungen, Wissen und Organisationsformen basierend auf IBM DB2, Microsoft SQL und Oracle können entsorgt werden, denn SAP ist unerbittlich: Für die Scherenschnittsammlung S/4 eignet sich lediglich Hana als Klebstoff und Basis. Die Add-ons S/4 Finance, S/4 Logistics, S/4 Core etc. fügen sich teils gut, teils weniger gut zusammen: Es ist ein riskantes Unterfangen, ein Auto zu renovieren, indem man monatlich ein neues Teil bekommt – einmal eine neue Tür, dann ein Getriebe, später die Sitze, Stoßfänger, Scheibenwischer etc.
Immer mehr SAP-Bestandskunden verzichten demnach auf ihre Sammelleidenschaft, sagen dem Scherenschnittmodell Ade und warten auf 2020, wenn aus der SAP-Garage ein komplett neues S/4-Auto rollt. Das S/4-Modell 2020 soll nicht mehr aus Add-ons bestehen, sondern dann soll das Ganze mehr sein als die Summe der Einzelteile. Gut Ding braucht Weile!