Bis(s) zur Lokomotive
Einzel- und Kleinserienfertiger im Maschinenbau stellen meist komplexe Produkte in kundenindividueller Ausprägung her. Die Fertigung ist üblicherweise projektbezogen, wobei oft kundenspezifische Varianten entwickelt werden.
Aufgrund der zahlreichen Bauteile ist die termingerechte Produktion eine Herausforderung für die Fertigungsplanung und -steuerung. Mit dem SAP-ERP-Modul PS steht ein Tool zur Verfügung, mit dem das große Mengengerüst strukturiert und abgebildet werden kann.
Da dieses System transaktionsorientiert arbeitet, stellt es schnell und übersichtlich Informationen über einzelne Bauteile bereit. Ebenso gut eignet es sich, um die Fertigung zu begleiten und zu dokumentieren.
Da das Modul PS jedoch nur wenige Funktionen zur Überblicksgewinnung und Planung bietet, ist durch den Austausch einer üblichen Datenbank mit einer schnelleren Datenbank allein noch keine Verbesserung zu erwarten.
Diskutiert wird die Fertigung von Diesellokomotiven, hauptsächlich für den Rangierbetrieb. Eine solche Lokomotive besteht aus 25.000 bis 30.000 Einzelteilen.
Diese Lokomotiven werden in verschiedenen Basistypen angeboten und dann entsprechend der konkreten Kundenanforderung mehr oder weniger stark modifiziert. Bedenkt man, dass der jährliche Ausstoß mehr als 55 Maschinen umfasst, kann man sich leicht ein Bild über das zu bearbeitende Mengengerüst machen.
Die Planung der kundenindividuellen Ausprägungen komplexer technischer Erzeugnisse lässt sich mit dem ERP–PS-Modul von SAP für die Einzelfertigung und die Kleinserie gut beherrschen. Dabei werden die wesentlichen Fertigungsschritte – im betrachteten Beispiel die Hauptbaugruppen – in Netzplänen abgebildet.
Diesen Netzplänen sind an den einzelnen Netzplanvorgängen Stücklisten zugeordnet. Diese Stücklisten können sowohl Kaufteile als auch anonym gefertigte Standardbaugruppen enthalten. Die Standardbaugruppen können sich über mehrere Fertigungsstufen weiter auflösen.
Es liegt also eine Mischung von kundenorientierter und kundenanonymer Fertigung vor.
Im Rahmen einer Angebotserstellung wird einem Kunden auf Basis vergröberter Kapazitätsabschätzungen ein Liefertermin für eine Lokomotive avisiert. Diese Abschätzung erfolgt auf Grundlage von Daten für standardisierter Musterlokomotiven und vergröberter Kapazitätsbedarfen außerhalb des SAP-Systems.
Die Herausforderung besteht nun darin, diese grobe in eine feine Planung zu übertragen. Das betrifft einerseits natürlich die Terminierung der Fertigungsschritte einer Lokomotive. Sie wird dadurch erschwert, dass bei der Fertigung mehrere Lokomotiven um die gleichen Kapazitäten und Materialien konkurrieren.
Die Schwierigkeit ergibt sich meist nicht bei der Endmontage, da diese erst erfolgt, wenn alle Bauteile vorhanden sind. Die Problematik besteht vielmehr bei der Koordination und Planung der kundenanonymen Fertigung.
Ein einzelnes Bauteil beziehungsweise eine einzelne Baugruppe kann in mehreren Lokomotiven verbaut werden. Hier wird aus Gründen der ökonomischen Lagerhaltung das Prinzip „First come – first served“ angewendet.
Denn würde man mit Auftragsreservierungen arbeiten, vereinfachte sich zwar die Zuordnung einer Baugruppe zu einer bestimmten Lokomotive, dies hätte aber auch einen entsprechend höheren Lagerbestand zur Folge.
Man behilft sich in der Praxis meist damit, dass man bezogen auf einzelne Lokomotiven die sogenannten Rückstandsstunden ermittelt. Die Rückstandsstunden werden mittels SAP kalkuliert.
Mit Hilfe dieser Informationen setzt man bei engen Terminen dann Prioritäten in der Fertigung, um die den Kunden zugesicherten Fertigungstermine einzuhalten. Das ist aber keine Planung, sondern eine reaktive Steuerung.
Deshalb wünschen sich Nutzer in diesem Kontext ein dynamisches Pegging und eine simultane Material- und Ressourcenbelegungsplanung, um bei jeder Änderung (neue Aufträge, Verschiebung von Terminen, Veränderung von Kapazitätsangeboten Materiallieferungen oder -bestellungen) die Konsequenzen abschätzen zu können.
Lösungsansatz
Ziel muss es sein, schon im Vorfeld eine termingerechte Fertigstellung der Lokomotive planen zu können. Die erwähnten Rückstände, die sich im operativen Geschäft unweigerlich ergeben, müssen jederzeit für die Zukunft neu berechnet und fest in die Vorab-Planung integriert werden.
Im Resultat erhält man dann eine Aussage über den Produktionsstatus einer Lokomotive. Dabei werden üblicherweise die Sicherheits- und Pufferzeiten, die bei initialer Terminierung eines Netzplanes beziehungsweise beim MRP-Lauf berücksichtigt werden, verringert.
Diese Reduzierung erfolgt nicht pauschal, sondern durch finite Planung der einzelnen Arbeitsplätze unter Berücksichtigung der Abhängigkeiten der einzelnen Bauteile zueinander. Das aber ist nur möglich, wenn ein Softwarewerkzeug bereit steht, das die Zusammenhänge im Auftragsnetzwerk transparent darstellt und die angestrebte finite Terminierung ermöglicht.
Moderne APS-Systeme erfüllen die Anforderung einer simultanen Material- und Kapazitätsplanung und sind prinzipiell für die Erfüllung der hier skizzierten Aufgabenstellung geeignet. Allerdings muss man einschränkend erwähnen, dass derzeit nur wenige Systeme in der Lage sind, die komplexen Zusammenhänge in einem gemischt kundenorientierten und kundenanonymen Auftragsnetzwerk zu verarbeiten.
Vossloh Locomotives hat sich für den Einsatz der Enterprise Workbench von OR Soft entschieden. Entscheidender Vorteil dieser Lösung ist die vollständige Integration in SAP ERP insbesondere seiner Module PP, PS, PM. Das OR-Soft-System hat keine eigenen Stamm- und Bewegungsdaten.
Alle Daten werden aus dem ERP extrahiert und die Ergebnisse in Form von Plan- und Fertigungsaufträgen, Bestellanforderungen, Netzplanvorgängen oder PSP-Elementen in SAP geschrieben. Dadurch ist es nicht notwendig, separate Stammdaten zu pflegen, Schnittstellen zu etablieren oder neue Begrifflichkeiten zu lernen. Als zusätzlicher Nutzen ergibt sich daraus, dass sich die Bedienung des ERP mit Hilfe einer intuitiven, grafischen Oberfläche vereinfacht.
Dank der 64-bit-Technologie des Microsoft-Betriebssystems gibt es, bezüglich des zu verarbeitenden Mengengerüstes, keine technischen Grenzen. Die Enterprise Workbench wird üblicherweise lokal auf einem PC installiert, entsprechende Computer mit 8, 16 oder mehr GB Hauptspeicher sind auf dem Markt kostengünstig verfügbar.
Der Einstieg in die Oberfläche der Enterprise Workbench geschieht über einen Browser. Dort werden alle Netzpläne, beziehungsweise alle im Bau befindliche Lokomotiven dargestellt. Drei Ikonen im rechten Bereich geben Auskunft über den aktuellen Status der Lokomotive im System:
- Terminkonflikte: fehlerhafte zeitliche Anordnung der Vorgänge beziehungsweise Fertigungsaufträge in einer Produktionskette
- Kapazitätskonflikte: ein Auftrag hat einen Kapazitätskonflikt, wenn für mindestens einer seiner Vorgänge der jeweilige Arbeitsplatz für die Belegungsdauer des Vorgangs an mindestens einem Tag in Summe überlastet ist
- Verfügbarkeitsprüfung für Zukaufteile: Bei einer Nichtverfügbarkeit wird in der Anzeige zusätzlich unterschieden, ob das fragliche Teil innerhalb der hinterlegten Planlieferzeit beschafft werden kann oder nicht.
Es sei angemerkt, dass nicht nur Fertigungsaufträge und Netzplanvorgänge, sondern auch Planaufträge (verknüpft mit den Informationen der Arbeitspläne und Stücklisten) in die Berechnung der Konflikte mit einbezogen werden können.
Der aufklappbare Baumbrowser enthält alle zugeordneten Datenelemente zu einem Netzplan inklusive der Information über die zeitliche Lage.
Ist das zugeordnete Datenelement ein Plan- beziehungsweise ein Fertigungsauftrag, erkennt man an den Ikonen, ob er eine 1:1-Zuordnung zum Bedarfsverursacher hat oder ob mehrere Bedarfsverursacher gedeckt werden. Dieser Zusammenhang ergibt sich aus der dynamischen Zuordnung der kundenanonymen Produktion mit dem „First come – first served“-Prinzip.
Die Balkengrafik kann folgendermaßen interpretiert werden:
- Für alle Netzelemente wird die Zeit zwischen Eckstart und Eckende als dünner blauer Balken gezeigt
- Der Hintergrund dieses Balkens wird entsprechend der terminlichen Lage grün oder rot dargestellt
- Ein grüner Hintergrund signalisiert den zulässigen Verschiebzeitraum, ohne dass dabei zeitliche Abhängigkeiten zum Vorgänger oder Nachfolger verletzt werden
- Der rote Hintergrund weist darauf hin, dass mindestens eine zeitliche Beziehung zum Vorgänger oder Nachfolger konfliktbehaftet ist.Über ein Kontextmenü ist es möglich, die terminliche Lage des Auftrags beziehungsweise des Vorgangs durch das System korrigieren zu lassen (soweit zeitlich noch machbar). Das System enthält noch eine Reihe weiterer Informationsmöglichkeiten und Funktionalitäten – sie hier zu beschreiben, würde aber den Rahmen sprengen.
Zusammenfassung
Ein Add-on für die Module PP und PS stützt die Planung konkurrierender Auftragsnetzwerke. Es versetzt den Nutzer damit in die Lage, von einer reagierenden Steuerung in der Arbeitsvorbereitung in eine proaktive Planung überzugehen.
Daraus erwachsen betriebswirtschaftliche Nutzungspotenziale, insbesondere durch gesicherte Termineinhaltung, Glättung der Produktion und Reduzierung des Lagerbestandes.