Atmos, Matrix und Fiori
Dieses „Perpetuum mobile“ ist mehr ein physikalisches Wunder als eine Pendeluhr. Laut Werksangaben ist sie auf eine Laufzeit von 600 Jahren ausgelegt. Aufgrund von Umwelteinflüssen sollte man diese Standuhr aber alle zehn Jahre fachmännisch reinigen lassen. Diese Schönheit, Präzision, Verlässlichkeit und natürlich der Perpetuum-mobile-Gedanke sollten auch für SAP-Software gelten. Früher war natürlich nicht alles besser, aber R/3 Enterprise war einer Atmos schon sehr ähnlich. S/4 ist noch weit von einer Robustheit vergangener ERP-Tage entfernt. Immer öfter stellt sich die Frage, ob SAP das alte und bewährte Ziel einer ganzheitlichen, betriebswirtschaftlichen Standardsoftware noch verfolgt.
„Was meinst du damit, dass dein gutes, altes R/3 einem Perpetuum mobile ähnlich war?“ Ich sitze mit meiner Frau vor der Atmos und versuche zu erklären: Eine Maschine, die einmal gestartet wurde und dann ewig läuft, sogar noch Arbeit verrichtet, wie unsere Atmos den Stunden- und Minutenzeiger bewegt, kann es physikalisch nicht geben.
Und schon fällt mir die beste aller Ehefrauen ins Wort: „Für etwas, das es nicht geben kann, war dieses Nichts aber ziemlich teuer!“ Fasziniert schaue ich auf die Pendelbewegungen der Atmos und betone, dass es nur den Anschein hat.
Die Atmos bezieht die notwendige Energie aus dem Wechsel der sie umgebenden Lufttemperatur. Die Temperaturschwankungen werden in mechanische Energie gewandelt, mit der die Atmos „aufgezogen“ wird und letztendlich das Pendel betreibt.
Aus praktischer Sicht ist sie ein Perpetuum mobile, theoretisch bleibt naturgemäß das Energieniveau in einem abgeschlossenen System immer konstant und so kann auch die Atmos keine Energie gewinnen und aus dem Nichts die Uhrzeiger bewegen. „Für mich bleibt es ein wunderschönes Wunder“, beschließt meine Frau diesen Physikunterricht.
SAP Fiori ist weit davon entfernt, einem Perpetuum-mobile-Gedanken zu folgen – auch wenn die neue Design-Oberfläche einen Industriepreis gewonnen hat. Was einst Hasso Plattner postulierte, ist nie im operativen SAP-Leben angekommen: die Bedienung eines S/4-Systems ohne Handbücher!
Natürlich lassen sich die Fiori-User-Interfaces auf Bildschirm, Tablet und Smartphone von jedem benutzen, was aber noch lange nicht bedeutet, dass jemand die komplexen S/4-Geschäftsprozesse versteht und bedienen kann. Wischen, tippen, zoomen und Nachrichten verschicken ist mit Fiori-UI jedem möglich, sinnvoll und produktiv arbeiten aber kaum.
Die anhaltende Aufregung um Fiori und das optimale UI für effizientes Arbeiten erinnert mich an eine Szene im ersten Teil der Filmtrilogie Matrix. Neo erkundet das Schiff Nebuchadnezzar und beobachtet, dass einer der Operatoren vor Bildschirmen sitzt, über die lediglich grüne Buchstaben und Zahlen flimmern – was mich sofort an mein Informatikstudium und die alte PDP-11 von DEC erinnert.
Der Operator meint zu Neo, dass das die Matrix sei, aber um sie zu visualisieren – heute würde man „rendern“ sagen –, fehlt die Computerpower. Wie viel Energie wird für Fiori aufgewendet? Sollen wir in der SAP-Community wirklich in Schönheit sterben, weil die Produktivität mit dem SAP’schen UI5 verloren geht?
Der Vorteil von Fiori ist, dass beim Erstkontakt mit S/4 niemand mehr vor Schreck erstarrt. Nach einer Eingewöhnungs- und Lernphase stellen sich aber Ernüchterung und Enttäuschung ein, weil schnelles, vorausschauendes, produktives, effizientes und einfaches Arbeiten mit den bunten Kästchen und Symbolen kaum möglich ist.
Das energieverschwendende Fiori-Design hat es verabsäumt, die Lernkurve seiner Anwender zu berücksichtigen und letztendlich zu implementieren. Fiori ist kein Selbstläufer im Sinne eines Perpetuum mobile, sondern ein Stolperstein für Produktivität und Effizienz.
Und die Energiefrage (siehe Matrix) stellt sich ganz real: Auf älteren Tablets und schwachen PCs ist eine „moderne“ Fiori-Oberfläche kaum einsetz- und bedienbar. Und auch die Belastung unserer Datenleitung wächst durch den Energiehunger der SAP’schen Fiori-Anwendungen, was sich in zahlreichen Beschwerde-Mails aus unseren chinesischen Niederlassungen niederschlägt. Hier helfen dann nur teure VPN-Installationen.