Wie ich zu sprechen lernte
SAP verfolgt die „alt-neue“ Devise, eine Lösung für integrierte betriebswirtschaftliche Prozesse anzubieten. Selbstverständlich möchte nicht einmal Herr Färbinger die Urzeiten von R/1, R/2 oder R/3 heraufbeschwören, aber es ist schon viel Wahres dran an dem, was er da hymnisch besingt: Die Technik ist weit gesprungen; die Performance ist atemberaubend; User-Frontends eröffnen Gestaltungschancen für eine effiziente und einladende Usability; an allen Ecken und Enden kommt etwas „on top“. Aber im Kern geht es unverändert um das eine: Wie können wir miteinander interagieren? Wie sprechen wir miteinander?
Für dieses Interaktionsprojekt nutzten die bekanntermaßen grauhaarigen, Ärmelschoner tragenden Kostenrechner ein Modell, das schon mit seinem Namen – Betriebsabrechnungsbogen – Staubflocken aufwirbelnd einen Schauer über den Rücken jagt.
Halt, halt, halt, geschätzte Materialwirtschaftler, Logistiker, Instandhalter, HR-Manager, Vertriebler, Finanzleute und Prozessexperten aller anderen Provenienzen: Bitte bleiben Sie noch einen Moment im Artikel, denn schon im nächsten Bild kommt Ihr Fachgebiet ins Spiel.
(1) Mitarbeiter bringen ihre Arbeitskraft ein. (2) Lieferanten liefern Waren und Dienstleistungen. (3) Die Werkstatt sendet Reparaturleistungen. (4) Aus dem Lager gehen Rohstoffe an den Fertigungsauftrag. (5) Die Fertigungskostenstelle verrechnet Maschinenleistungen. (6) Der Fertigungsauftrag wird abgeliefert. (7) Aus dem Lager werden Fertigerzeugnisse entnommen (pick) und (8) an den Kunden geliefert (ship). Auf diesen Warenausgang folgen (9) die Ausgangsrechnung und schließlich (10) der Zahlungseingang.
Das gesamte Bild ist nach dem Muster Subjekt, Prädikat, Objekt geordnet. Jede Aktivität (= Prädikat respektive Verb) zwischen Subjekt (= Sender) und Objekt (= Empfänger) lässt sich verfeinern. Der „Drilldown“ visualisiert den Mengenfluss, auf den via Sachkonten der Wertfluss folgt.
Die SAP-Tiefen
Ich gestehe, dass ich mich wie Odysseus am Mast festbinden muss, um mich von dem Modell nicht in die (Un-)Tiefen von Gleitendem Durchschnitts- und Standardpreis, Preisdifferenzen, Verteilung, Umlage, Abrechnung, Tarifermittlung, Leistungsverrechnung, Fakturierung usw. ziehen zu lassen. Ich bin versucht, von der skizzierten Kern-Methode als dem Gesang der Sirenen zu sprechen, die bekanntlich nicht nur mit ihrer schönen Stimme bezauberten (soll hier heißen: mit der Einfachheit und Klarheit der Darstellung).
Vor allem betörten sie durch ihre Fähigkeit, „alles auf Erden Geschehende zu wissen und offenbaren zu können“ – was hier bedeutet, dass dieses Modell bis in die SAP-Tiefen von Buchung und Gegenbuchung, MM-Kontenfindung und Bewegungsarten, betriebswirtschaftlichen Vorgängen und Transaktionen, Customizing, Tabellen und Programmen führt.
Komplexität vs. Reduktion
Zu einfach? Kalter Kaffee? Altes Holz? Aber das ist doch genau der Clou: Die Technik ist mittlerweile sehr leistungsfähig. Die Menge der beteiligten Spieler ist wahnsinnig gewachsen und deren Spezialkönnen verschlägt einem Laien den Atem. Die organisatorischen, buchhalterischen, kostenrechnerischen, logistischen, managementmäßigen Herausforderungen sind spektakulär. Die Prozess- und Wertschöpfungskette ist im Detail und in der Spannweite faszinierend. Genau deshalb geht es in jeder Etappe darum, die komplexen Ereignisse reduziert nachzubilden, um auf den Kern zu kommen.
Mit diesem Leitgedanken schlage ich vor, die Satzbausteine unserer Wortsprache – Subjekt, Prädikat und Objekt – konsequent als Syntax einer Bildsprache für Geschäfts- und Buchungsprozesse zu nutzen. Mit diesem Wort- und Bildmuster können wir einfach und klar, konsequent und durchgängig sprechen, visualisieren, modellieren, wer was macht und (dann) mit wem interagiert: Welche Personen, Instanzen, Kontierungsobjekte, technischen Systeme sind an dem Prozess in welcher Rolle beteiligt?
Welche Aktivitäten und betriebswirtschaftlichen Vorgänge führen sie aus? Welche Effekte entstehen für Preise, Mengen, Werte, Nachrichten? Mit welchen Transaktionen werden die Aktivitäten ausgeführt? In welchen Tabellen sind die Stammdaten abgelegt? In welchen Tabellen werden die Bewegungsdaten (Preise, Mengen, Werte) gebucht?
Das skizzierte Bild setzt den Fokus auf den durch Aktivitäten ausgelösten Informationsfluss zwischen den Beteiligten. Diese Prozessdimension visualisiert die Interaktion zwischen Subjekt und Objekt, System und Programm. Die zweite wichtige Dimension, nämlich die Schrittfolge der Aktivitäten, also der Prozessablauf, lässt sich im selben Modell ebenfalls visualisieren.
Die Kern-Methode ordnet das Geschehen demnach in zwei Flussgrößen: Erstens Informationsfluss mit den Informationstypen Preis, Menge, Wert, Nachrichten (zum Beispiel Texte); und zweitens Prozessablauf als Schrittfolge von Aktivitäten mit Entscheidungen (AND, OR, XOR) zur Durchführung der Aktivitäten.
R/3- und S/4-Welt
Die betriebliche Praxis kann sehr stark von diesem Blickwechsel profitieren. Die mit der Zeit größer werdende Welle der Migrationen von der R/3- in die S/4-Welt eröffnet dieser Generation dieselbe Chance, wie sie in den 1990er-Jahren die „Kinder“ der R/3-Welle geschenkt erhielten: die Möglichkeit, Geschäftsprozesse kritisch zu hinterfragen, richtig zu verstehen und neu zu gestalten.
Diese entscheidende Ressource für Produktivitätssteigerungen – kennen, ordnen, verstehen, anwenden – sollten wir den „Menschen der neuen SAP-Generation“ zugänglich machen. Beim Wechsel von R/3 nach S/4 geht es um mehr als um Migrationstechnik: Es geht um Technologie, nämlich um das Verstehen, was man in Zukunft besser macht als heute. Mit etwas Abstand und dann als Ganzes besehen ist das Modell altbekannt – wir denken und sprechen ja schon immer so. Aber wie schon eingangs gesagt: Altes Holz brennt auch – und meistens sogar besonders gut.