SAP im ERP-Paradoxon gefangen


Die schnelllebige ERP-Welt erfordert Kompromisse
Es gibt ein berühmtes Paradoxon zum Thema Geschwindigkeit und der Unfähigkeit eines schnellen Läufers, den langsameren zu überholen, der mit einem Vorsprung gestartet ist. Der griechische Philosoph Zenon hat sich die Geschichte ausgedacht und Aristoteles hat sie in seiner Abhandlung über Physik niedergeschrieben.
Das Paradoxon von Zenon handelt von einem Wettlauf zwischen dem schnellen Achilles und einer langsamen Schildkröte. Beide starten zum selben Zeitpunkt, aber die Schildkröte erhält einen Vorsprung. Obwohl Achilles schneller ist, kann er sie laut Zenon niemals einholen. Sein Argument beruht auf der Annahme, dass Achilles zunächst den Punkt erreichen muss, von dem die Schildkröte gestartet ist.
Während Achilles dieses Wegstück zurücklegte, hat sich aber auch die Schildkröte weiterbewegt, sodass Achilles einen neuen Zielpunkt hat. Auch diesen Punkt erreicht er wieder schnell, während die langsame Schildkröte ebenfalls vorankam. Dieses Spiel geht ins Unendliche. Immer wieder erreicht Achilles sehr schnell die Punkte, wo die Schildkröte zuvor stand – eine unendliche Reihe mit immer kleiner werdenden Quotienten.
SAP eilt voraus und die Bestandskunden versuchen, das organisatorische und technische Niveau des führenden ERP-Anbieters zu erreichen. Während ECC 6.0 (SAP Business Suite 7) customized wird, entwickelt SAP das neue S/4. Während die SAP-Bestandskunden SoH (Suite 7 on Hana) customizen, präsentiert SAP das Konzept Rise.
Während die Anwender versuchen, Rise with SAP zu verstehen, kommt SAP mit einer neuen Business Suite und Cloud ERP. Das Vorwärtsstreben und Enteilen in einen unendlichen ERP-Kosmos ist ein Paradoxon von SAP. Die SAP-Bestandskunden mussten in den vergangenen Jahren viele und teure Kompromisse eingehen, um mit den Anforderungen von SAP auch Schritt halten zu können.
ERP-Kompromisse bedeuten Transformationsschulden
Vielfach werden der Mangel und die Langsamkeit der digitalen Transformation beklagt. Die Ursache für das Ausbleiben dieser ERP-Transformation ist aber oft trivial: Die Beschäftigung mit dem organisatorischen, technischen und lizenzrechtlichen SAP-Universum erfordert viele Ressourcen und hohen finanziellen Einsatz. Es bleiben keine Kapazitäten mehr für eine inhaltliche Weiterentwicklung. Die Beschäftigung mit SAP wird zum Selbstzweck und lähmt die digitale Transformation.
Eine IT-Schuld gibt es in jedem Unternehmen – vom Start-up bis zum internationalen Großkonzern. Häufig nehmen SAP-Bestandskunden diese „Schuld“ bewusst in Kauf, um technische ERP-Entwicklungen zu beschleunigen oder Zeitpläne (Release-Ende 2027/2030) einzuhalten. Kritisch wird es allerdings, wenn die technischen Schulden die Existenz und den eigentlichen Unternehmensinhalt der SAP-Bestandskunden gefährden.
Wenn es schnell gehen muss, entstehen oft schlechte Kompromisse. Das können unbeabsichtigte Schwächen in der ERP-Logik sein, aber auch unzureichende End-to-End-Prozesse. Natürlich lassen sich Systeme mit monolithischen oder veralteten ERP-Architekturen meist nur schwer aktualisieren. Aber Altlasten aus dem Z-Namensraum (Abap-Modifikationen) müssen evaluiert und orchestriert werden.
Die Keynote von SAP-Vorstandsmitglied Thomas Saueressig auf dem DSAG-Jahreskongress 2025 in Bremen ging damit vollkommen am Thema vorbei: Ein S/4-System auf der „grünen Wiese“ als neues ERP ohne Altlasten zu customizen, ist für die DSAG-Mitglieder eine leichte Fingerübung. Stattdessen hätte Thomas Saueressig ein komplexes Clean-Core-Projekt präsentieren sollen, in dem der Umgang und das Beherrschen von altem Abap-Code demonstriert wird.
SAP bleibt im ERP-Universum unerreichbar
Mit Cloud und KI stürmt SAP-Chef Christian Klein voran und versucht, gemeinsam mit SAP CFO Dominik Asam den eigenen Börsenkurs zu pflegen. Dieser Sturm und Drang zeigt aber immer öfter weniger Wirkung: Die eigenen Bestandskunden bleiben zurück und der SAP-Aktienkurs sinkt unaufhörlich.
Es ist ein Paradoxon: SAP setzt auf die erfolgreichen IT-Buzzwords, aber die SAP-Bestandskunden können dem ERP-Weltmarktführer nicht mehr folgen. SAP gibt sich innovativ und schließt Kooperationen mit den größten und erfolgreichsten IT-Konzernen, aber die Finanzanalysten würdigen die Arbeit von Christian Klein und Dominik Asam nicht und schicken den Aktienkurs auf Talfahrt.
Häufig lassen sich technische ERP-Schulden nicht vermeiden, doch SAP-Bestandskunden sollten darauf achten, in welchen IT-Bereichen sie entstehen und dass der Schuldenberg (Abap-Modifikationen) nicht zu hoch wird. Schließlich erhöhen technische IT-Schulden nicht nur den Aufwand bei der Pflege von Anwendungen und Systemen, sondern bergen ernsthafte Unternehmensrisiken. Vielleicht ist es Zeit für SAP-Bestandskunden, sich aus dem Wettlauf und dem Zeitstress zu verabschieden. Ein Paradoxon kann auch dadurch aufgelöst werden, indem sich die SAP-Bestandskunden zu anderen ERP-Anbietern hinwenden.



