SAP-Early-Adopter mit differenziertem SAP-Blick: Störungsarme S/4-Transition


Seit mehr als 40 Jahren setzt Festo auf SAP. Ende der 1970er-Jahre wurde das SAP-Mainframe-System R/2 eingeführt. Anekdoten besagen, Professor Hasso Plattner habe bei der SAP-R/2-Einführung persönlich vor Ort bei Festo mitgewirkt. Später schwenkte das Unternehmen früh auf das Client-Server-ERP-System SAP R/3 ein; danach auf SAP ERP ECC, das zwischenzeitlich weltweit in allen Festo-Gesellschaften auf einem System genutzt wird. Diesem ERP-System folgte SAP S/4 Hana, das Festo nunmehr seit rund einem Jahr produktiv mit über 15.000 Usern (bei über 20.000 Beschäftigten) weltweit nutzt. Diese Eckdaten machen den hohen Stellenwert von SAP bei Festo greifbar.
Um die S/4-Transition oder -Migration bei Festo besser nachvollziehen zu können, im Folgenden ein kleiner Exkurs in Sachen Festo-IT/SAP. Festo als SAP-Anwenderunternehmen hat einen differenzierten Ansatz und einen individuellen Blick darauf, wie IT gemacht oder genutzt wird. Und zwar immer mit dem Ziel, die IT und damit SAP-ERP für die eigenen Zwecke, die eigenen Strategien oder das Erzielen eigener Wettbewerbsvorteile zu verwenden.
Hinter dieser simplifizierten Aussage verbergen sich selbstverständlich viele wichtige Themen respektive Notwendigkeiten und Rahmenbedingungen.
Kritisch-konstruktiver Blick
Für Festo stand immer im Mittelpunkt, sich Bewertungs- und Umsetzungskompetenzen und somit eigenes Wissen zu relevanten IT-Themen und damit auch zu praktisch allen SAP-Themen selbst anzueignen; stets aufbauend auf einem eigenen großen Erfahrungsschatz. Auch, um SAP-Sachverhalte kritisch-konstruktiv sowie abwägend bewerten zu können. Wobei ergebnisoffen die Frage gestellt wird: Was ist gut für das eigene Unternehmen an SAP-Neuerungen oder -Änderungen und was weniger oder was überhaupt nicht? Um diese Maßgaben zu erfüllen, investiert Festo im Vergleich zu anderen Unternehmen sicherlich überdurchschnittlich viel in die IT und in SAP. Gleichzeitig macht sich Festo zur Aufgabe, die IT und damit SAP ebenfalls als eine Art „Produktionsfaktor“ einzusetzen, um die formulierten strategischen Unternehmensziele sowie strategische Wettbewerbsvorteile in agiler Art und Weise zu sichern oder auszubauen. Das Gesagte betrifft faktisch das gesamte Unternehmen und alle Geschäftsbereiche. Den Finance-Bereich ebenso wie die Logistik mit einem weltweiten, ausgeklügelten Produktionsnetzwerk nebst einem schlagkräftigen Vertriebsteam, und zwar rund um den Globus.
Von den 550 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die in der IT tätig sind, befasst sich ein Großteil seit Jahren mit allen für Festo wichtigen SAP-Themen. Von Modulthemen und dem SAP-Einsatz in den Lines of Business (Fachbereiche) über Prozessunterstützung und Anwendungsentwicklung bis hin zu Infrastrukturaspekten und anderem mehr. Neuere Themen, wie beispielsweise künstliche Intelligenz, werden von einem eigenen Festo-„IT Innovation Team“ abgehandelt. In Zusammenhang mit SAP, aber auch außerhalb von SAP (Non-SAP).
Konsolidierung und Modernisierung
Bereits Ende 2020 entschied sich Festo nach einer Nutzenanalyse für einen Wechsel von SAP ERP ECC auf SAP S/4 Hana. Damals wie heute sieht Festo SAP im ERP-Umfeld alles in allem als alternativlos. Bereits kurze Zeit nach dem SAP-S/4-Votum wurde festgelegt, die S/4-Einführung im Big Bang durchzuführen, eben die Produktivsetzung aller SAP-S/4-Hana-ERP-Module zusammen. Der Grund: Abhängigkeiten der Module und Prozesse untereinander in einem Single-Client-ERP. Fixiert wurde ferner, S/4 Hana ERP on-premises zu betreiben. Zwar wurde eine S/4-Cloud-Nutzung ins Kalkül miteinbezogen, nach Abwägung jedoch verworfen. Bei Festo existiert keine Cloud-First-Strategie. Von Fall zu Fall wird entschieden, ob der Cloud-Einsatz als sinnvoll erachtet wird oder nicht. Bei den sogenannten SAP-Satellitensystemen kommt die Cloud-Verwendung selbstverständlich zum Tragen, da diese oft nur in Form von Cloud-only genutzt werden können. Gleiches gilt für die SAP BTP (Business Technology Platform).
Auch entschied sich Festo dafür, die S/4-Transition weitestgehend selbstständig durchzuführen. Also ohne Mitwirkung eines SAP-General-Beratungsunternehmens. Auf externe Unterstützung wurde in dezidierten Themenfeldern zurückgegriffen. Die Migration der ECC-S/4-Prozesse und Daten sowie die Codemigration erfolgte zusammen mit den Unternehmen smartShift und SNP.
Zwei Hauptaspekte standen für Festo bei dem SAP-Umstieg praktisch gleichrangig obenan. Zum einen die mit S/4 verbundenen Neuerungen und Innovationen zu nutzen. Wie beispielsweise die Verwendung einer modernen Benutzeroberfläche mit Fiori, erweiterte Analysemöglichkeiten oder die Verwendung von erweiterten Funktionen. Zum anderen strebte Festo eine signifikante Reduzierung der getätigten SAP-Individualisierungen und SAP-Anpassungen an, die S/4 ermöglicht. Konkret: Es sollte eine sehr deutliche Minimierung der Code-Modifikationen und Y-Transaktionen (Abap) erzielt werden. Um im Endeffekt insbesondere den kaufmännischen Kern wieder agiler verändern zu können.
IT und LoBs im Miteinander
Selbstverständlich wurde ein Projektplan mit einzelnen Projektschritten und Stages für die Migration erstellt. Vom Ansatz her lässt sich die Migration bei Festo im Groben dem sogenannten Brownfield-Ansatz zuordnen, wenngleich auch Elemente des sogenannten Bluefield-Ansatzes Verwendung fanden. Jedenfalls handelte es sich bei Festo um eine Migration aus einem existierenden SAP-System auf S/4. Bereits im Jahr 2014 fand noch bei der SAP-ERP-ECC-Nutzung ein Datenbank-Wechsel von Oracle auf Hana als quasi verpflichtende Datenbank für die S/4-Nutzung statt.
Wie skizziert, war im Projekt eine der Hauptzielsetzungen und -aufgaben, die vielen SAP-Festo-Ausprägungen in Form von Modifikationen und Abap in den SAP-Standard zurückzuführen beziehungsweise zu minimieren.
Dazu wurden zuerst Funktions-Kompatibilitätslisten beziehungsweise Inkompatibilitäts-Funktionslisten als Basis herangezogen respektive erstellt. Anschließend wurden in Teams, und zwar bestehend aus Lines-of-Business- und IT-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern, die zuvor genannten Listen abgearbeitet. Ziel war, die Prozesse im neuen S/4 festzulegen – immer unter der Maßgabe der Modifikations- und Abap-Reduzierungen.
Diese Abstimmungen und Festlegungen waren herausfordernd und zeitintensiv. Und hier und da nahm das Ringen um die beste Lösung mehr Zeit in Anspruch als vorgesehen. Der Grund: Sie betrafen praktisch alle Lines of Business und alle S/4-ERP-Module beziehungsweise -Komponenten.
Von Financials/FI über den Einkauf/MM, die Beschaffung/CP (Central Procurement, vormals SRM), den Verkauf/SD, die Fertigung/PP, Qualität/QM, das Lieferkettenmanagement/SCM, das Personalmanagement/HCM bis hin zur Instandhaltung/PM. Die Prozess- oder Funktionsabdeckung mit SAP APO wurden S/4-gesondert behandelt. Festo entschloss sich aus diversen Gründen, SAP APO durch eine andere Lösung (Kinaxis) zu ersetzen.
Für die Abbildung der neuen konsolidierten Prozesse und Funktionen in oder mit S/4 wurden insgesamt acht SAP-Testsysteme aufgebaut. Ebenso wurde die vorhandene Hana-Infrastruktur für S/4 überarbeitet. Zuständig dafür waren Festo-Teams, unter anderem das SAP Operations Team und die SAP-Basis. Die Infrastruktur besteht aus einer Hot-Stand-by-Umgebung inklusive DR-/Fail-Over-Mechanismen. Mit zwei verbundenen Rechenzentren an zwei verschiedenen Standorten; inklusive transaktionsgenauer Systemwiederherstellung nach einem möglichen Systemausfall. Anfängliche Performance-Unrundungen (Antwortzeiten, SAP-Langläufer) konnten vor dem Go-live zusammen mit SAP (PSLE-Service) geglättet werden. Derzeit setzt Festo Server von HPE ein. Als Betriebssystem läuft RHEL von Red Hat. Die Hana-Datenbankgröße (Hana Version 2.00.07700) beläuft sich momentan auf 7,5 TB. Das geschätzte Wachstum der Datenbank pro Jahr liegt bei etwa einem TB.
SAP in einem veränderten Fokus
Festo erachtet es als positiv, dass der SAP-ERP-ECC-SAP-S/4-Hana-Wechsel (derzeit S/4-Version 2021 FPS2) frühzeitig vollzogen wurde. Damit hat sich Festo in die Lage versetzt, das neueste ERP-System von SAP als Hebel insbesondere für Optimierungsumsetzungen strategischer Unternehmensziele respektive für Erhöhungen von Wettbewerbsvorteilen zu nutzen. Auch lassen sich damit Innovationen schneller und bedarfsgerechter realisieren. Mit dem Upgrade auf S/4 2023 FPS2 wird Festo ab Mitte 2025 von Innovationen und Optimierungen beispielsweise in Finanzfunktionen profitieren.
Minus 90 Prozent Modifikationen
Die angestrebte Systemverschlankung wurde zu einem hohen Prozentsatz erreicht. Die SAP-Code-Modifikationen konnten um 90 Prozent reduziert werden; die mit Abap entwickelten Individualausprägungen um 60 Prozent. Übrigens setzt Festo nicht nur Standard-Fiori-Apps ein, sondern auch eine Reihe von Custom Fiori Apps. Trotz zusätzlicher, über eine gewisse Zeit währender Belastungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie gewisser Unrundungen lässt sich die SAP-ERP-ECC-SAP-S/4-Hana-Transition bei Festo als störungsarm bewerten. Wobei die beteiligten Festo-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter während des Migrationsprojekts jederzeit engagiert, zielorientiert und gemeinschaftlich sozusagen an einem Strang zogen.
Durch das frühe Einschwenken auf S/4 und die damit verbundenen weitreichenden Veränderungen wurde bei Festo ein differenzierter oder auch ein konstruktiv-kritischer Blick auf SAP geschärft. SAP-Strategiewechsel, insbesondere die SAP-Leitlinie Cloud-First und damit verknüpft unter anderem Anwendungs-Code-Trennungen beziehungsweise Verschiebungen, stellen nicht nur Festo vor große Herausforderungen. Problempunkt der SAP-Strategieveränderungen: Unternehmen wie Festo, die auf Individualität und auf eigene SAP-Identität mit eigener Betreuungs- und Umsetzungskompetenz setzen, sind angehalten, sich mit Fragen und Themen zu befassen, die zuvor nicht existierten. Nicht nur bei Festo, sondern auch bei anderen bekannten Unternehmen im Industriegürtel um Stuttgart wird sehr aufmerksam darauf geblickt, inwieweit Kundenbedarfe in das neuere SAP-Wirken miteinbezogen werden und Berücksichtigung finden.