Im wirklichen Leben wird nach einem Totalschaden hinter den Projektnamen ein „2.0“ gesetzt und mit neuem Elan und Konzept weitergemacht. Nun sind naturgemäß Industrie 1.0 bis 3.0 keine Totalschäden, aber von Version 1 bis zur aktuellen Version 4 hat sich Dramatisches verändert – auch verbessert. Eine industrielle Revolution!
Nach der Cloud-Katastrophenstimmung im vergangenen Sommer erblickten Experten am Horizont bereits Embrace 2.0 – die Hyperscaler Microsoft, AWS, Google und Alibaba inklusive SAP schwiegen. Als dann bekannt wurde, dass Microsoft-Deutschland-Chefin Sabine Bendiek zum Jahreswechsel in den SAP-Vorstand berufen wird, waren sich viele Mitglieder der SAP-Community einig: Unter Führung von Sabine Bendiek wird es ein runderneuertes Embrace geben, eine Version 2.0.
Weit gefehlt: Sabine Bendiek zog mit viel Vorschusslorbeeren in den SAP-Vorstand ein und die renommierte Journalistin Eva Müller bezeichnete Sabine Bendiek im Manager Magazin als SAP-Feuerwehrfrau – offensichtlich gab es aber andere Brandherde und Baustellen.
Embrace entschlummerte sanft. Selbst Microsoft zog sich aus diesem Bereich weitgehend zurück und überließ Azure dem freien Spiel des Cloud-Marktes. Heute spricht kaum noch jemand über Embrace und Embrace 2.0 scheint ohnehin eine Totgeburt zu sein.
Embrace ist Vergangenheit und die SAP-Bestandskunden sind gut beraten, für ihre Cloud-Strategie neue Partner zu wählen. (Redaktioneller Hinweis: Wir haben es am Anfang nicht glauben wollen, aber es fand sich in der SAP-Community niemand, der unsere Embrace-Kolumne weiterschreiben wollte.)
Dann kam Ende Januar überraschend SAP-Chef Christian Klein digital in unsere Büros und Homeoffices: Das virtuelle Event war eine Mischung aus Fkom und SurpRise. Unter normalen Umständen steht SAP zu Beginn jedes Jahres im Bann des Field Kick-off Meetings (Fkom). Weil aber SAP offensichtlich mehr als nur eine Baustelle hat, versuchte Christian Klein mit einer virtuellen Veranstaltung alle Antworten zu liefern.
Und weil die Probleme bei SAP sich exponentiell vermehren, wurde nicht nur eine Top-Managerin von Microsoft zu Hilfe gerufen, siehe oben Sabine Bendiek, sondern noch eine zweite Top-Managerin aus der Microsoft-Zentrale Seattle. Julia White ist im SAP-Vorstand ab sofort verantwortlich für Marketing und Kommunikation.
Was aber wollte uns Christian Klein mit „Rise with SAP“ sagen? Die Meinungen gehen auseinander, aber Fakt ist, die Cloud-Story Embrace ist tot, die neue SAP’sche Cloud-Story heißt: Rise with SAP. Andere Journalisten und Analysten haben es bereits mehrfach betont: Mit SurpRise will SAP abermals ihre Bestandskunden auf eine Cloud-Plattform locken. In einem komplexen ERP-Umfeld inklusive Industrie 4.0, IIoT, Blockchain und E-Commerce kann es aber nur eine hybride Antwort geben.
Keine Cloud kann alle Bedürfnisse befriedigen. Niemand sollte die eigene IT-Kompetenz in einer On-premises-Infrastruktur vernachlässigen. Die Zukunft ist zu ungewiss, um auch nur auf einen der vielen Cloud- und On-prem-Bausteine zu verzichten. Rise with SAP ist gut und richtig, aber weder neu noch spektakulär. Der Name Embrace 2.0 wäre sinnvoller und klarer gewesen.
Wo also steht Christian Klein mit seiner SAP? Und was macht eigentlich Professor Hasso Plattner? Nach vielen Jahren der Schande und Schmach ist der SAP’sche Net Promoter Score wieder einmal positiv. Zu verdanken ist dieser erfreuliche Umstand sicher dem umgänglichen und sympathischen SAP-Chef Christian Klein.
Würde sich auch der SAP-Aktienkurs nicht nur seitwärts bewegen, sondern ähnlich wachsen wie der Cloud-Mitbewerb, könnten alle zufrieden sein. Weil aber momentan bei SAP mit Ausnahme des Net Promoter Score nichts im grünen Bereich ist, fragt sich die SAP-Community: Wo ist Professor Plattner und was macht er?
Ich weiß es nicht, aber im zitierten Manager Magazin war zu lesen: „Der fleißige und sympathische Herr Klein hat seine Hausaufgaben bei der Integration erledigt […] Doch grundsolide reicht nicht, nirgendwo und schon gar nicht in der Softwarewelt, die von der Imagination des Morgen lebt.“ Diese Imagination hat letztendlich immer Hasso Plattner gebracht – er fehlt uns!
Nicht schweigsam ist Larry Ellison. Der Oracle-Gründer machte sich über die Behauptung von Christian Klein und SAP-CFO Luka Mucic lustig, dass es nämlich keine ERP-Anwender gebe, die SAP an Oracle verloren hat. Anlässlich einer Analystenkonferenz präsentierte Ellison eine Liste mit 100 Namen von Unternehmen, die seinem Verständnis nach von SAP zu Oracle wechselten oder wechseln wollen. Also, übliches Marketing, auf das Julia White sicher gute Antworten findet.
Larry Ellison legte in dieser Analystenkonferenz auch noch den Finger auf eine ganz andere SAP-Wunde und diesmal hatte er absolut recht: SAP wird niemals den Weg in die Cloud finden, weil die Software dazu fehlt. Das SAP’sche ERP wurde niemals für das Cloud Computing runderneuert. Stimmt es? Ein SAP-Partner lieferte mir die Auflösung: „Im sogenannten neuen S/4 habe ich mich mit meinen alten On-prem-ECC-Kenntnissen sofort orientieren können, weil sich prinzipiell nichts verändert hat.“