Im Bauch des Architekten: SAP plant Übernahme von LeanIX, um mit Signavio, Cloud ALM und Tricentis zu kombinieren
Am Tag der Veröffentlichung der geplanten Übernahme des Start-ups Lean-IX durch SAP stieg der SAP-Aktienkurs auf 130 Euro. Die Finanzanalysten scheinen in diesem Milliardentransfer einen Hoffnungsschimmer für den ERP-Weltmarktführer zu sehen. Das deutsche Handelsblatt konnte anlässlich der SAP-Verlautbarung berichten: „Nach Zahlen des Marktforschungs- und Beratungsunternehmens Gartner vom Jahresanfang haben fast 70 Prozent aller Bestandskunden noch keine Lizenzen für S/4 Hana gekauft – trotz Programmen wie Rise with SAP, die eine Erleichterung bei der Migration versprechen. Und nur 20 Prozent haben zumindest ein Modul im produktiven Einsatz.“
“Mit einer integrierten Übersicht über IT-Anwendungen und Geschäftsprozesse beschleunigen wir die Modernisierung.“
André Christ,
Co-Gründer,
LeanIX
Die Hoffnung stirbt zuletzt: SAP muss sich immer mehr und sehr schnell ein paar Tricks einfallen lassen, um die eigenen Bestandskunden zur S/4-Conversion zu überreden. Diese S/4-Überzeugungsarbeit wird zukünftig noch schwieriger, weil SAP die Hosting-Verträge mit den Hyperscalern und SAP-Partnern auslaufen lässt. SAP-Bestandskunden, die auf S/4-Innovationen angewiesen sind, müssen dann in die SAP Public oder Private Cloud. Erleichtern sollen die Überzeugungsarbeit ab 2024 die IT-Werkzeuge von LeanIX, allen voran das Enterprise Architecture Management (EAM). SAP scheint bereit zu sein, für dieses EAM von LeanIX etwa eine Milliarde Euro zu zahlen.
Enterprise Architecture
LeanIX ist ein Anbieter für Enterprise Architecture Management (EAM) und unterstützt damit die Modernisierung von IT-Landschaften und die kontinuierliche Transformation. Die Software-as-a-Service-Lösungen ermöglichen es Unternehmen, IT-Transparenz zu schaffen und den Übergang zu ihrer Ziel-IT-Architektur zu visualisieren, zu bewerten und zu verwalten. Durch einen datengesteuerten und automatisierten Ansatz, der durch KI ergänzt wird, hilft LeanIX seinen Bestandskunden, konsolidierte Entscheidungen zu treffen und nachhaltiger zusammenzuarbeiten. LeanIX betreut weltweit über 1000 Unternehmen aus verschiedenen Branchen, darunter mehr als zehn Prozent der Fortune-500- und die Hälfte der deutschen DAX-40-Unternehmen. LeanIX hat seinen Hauptsitz in Bonn und verfügt über Büros in Boston (USA), London (UK), Paris (Frankreich), Amsterdam (Niederlande) und Ljubljana (Slowenien). LeanIX, ein nicht börsennotiertes Unternehmen, ist seit zehn Jahren ein strategischer Partner von SAP und Signavio. Viele CIOs nutzen Angebote von Lean-IX im Rahmen der digitalen Transformation.
SAP hat Anfang September eine Vereinbarung zur Übernahme von LeanIX geschlossen. Die geplante Akquisition soll SAP helfen, das S/4-Portfolio inklusive Signavio und Cloud ALM zu erweitern: SAP-Bestandskunden sollen damit Zugang zu einer umfassenden Suite für die Geschäftstransformation erhalten und ihre Prozesse mithilfe von künstlicher Intelligenz optimieren können. Der Abschluss der Transaktion wird für das vierte Quartal 2023 erwartet, abhängig von den üblichen rechtlichen Bedingungen und behördlichen Genehmigungen. Die vertraglichen Details der Transaktion wurden nicht bekannt gegeben.
„Systeme und Prozesse gehen Hand in Hand“, sagte SAP-CEO Christian Klein Anfang September. „Gemeinsam mit LeanIX wollen wir eine einzigartige Transformations-Suite anbieten, um unseren Kunden eine ganzheitliche Unterstützung in ihren Geschäftstransformationen zu ermöglichen. Basierend auf unserer jahrzehntelangen Expertise werden wir generative KI integrieren, um selbstoptimierende Anwendungen und Prozesse anzubieten, die Unternehmen dabei helfen, wichtige Ziele wie die Maximierung ihres Cashflows bei gleichzeitiger Minimierung ihres ökologischen Fußabdrucks zu erreichen.“
“Mit LeanIX wollen wir eine Transformations-Suite anbieten, um ganzheitliche Unterstützung zu ermöglichen.“
Christian Klein,
CEO,
SAP
Dreamteam: LeanIX und Signavio
Das Angebot von LeanIX mit generativer KI steht dabei auf einer Stufe mit Signavio und deren generativer KI. Es wird für SAP eine große Herausforderung, das Enterprise Architecture Management von LeanIX mit dem Process Mining von Signavio und SAP Cloud ALM (Application Lifecycle Management) und das automatisierte Testen von SAP-Partner Tricentis inklusive generativer KI zu harmonisieren und zu orchestrieren. Aus allem soll die von Christian Klein erwähnte Transformations-Suite erwachsen. Eine Roadmap dafür gibt es nicht, Experten rechnen aber kaum mit einer Fertigstellung vor der S/4-Deadline 2027.
Was technisch und organisatorisch gut zusammenpasst, muss nicht unbedingt strategischen und visionären Mehrwert ergeben. Die Kombination aus ERP von SAP, Process Mining von Signavio und EAM von LeanIX kann einen hohen Mehrwert für die Digitalisierung bei den SAP-Bestandskunden bringen. Beim Umstieg von SAP ECC 6.0 auf S/4 Hana gilt es viele alte Zöpfe abzuschneiden und die eigene Aufbau- und Ablauforganisation zu digitalisieren. Hierbei kann Signavio einige ERP-Prozesse kritisch hinterfragen und vielleicht einige Abap-Modifikationen eliminieren. LeanIX hatte aber als Architekt nicht nur ERP im Fokus, sondern alle IT-Applikationen eines Unternehmens. Das Start-up aus Bonn ist somit Enterprise-Architekt und eben nicht ERP-, CRM- oder SCM-Architekt. So gesehen ist LeanIX ein Universalist, während SAP ein Spezialist ist. Unabhängig von Umsatz und Mitarbeiteranzahl: LeanIX ist mehr als ERP und damit zu groß für SAP. Wenn der Baumeister (SAP) nun den Architekten (LeanIX) kauft, vergrößert der Baumeister seine Macht und seinen Einfluss. Daraus entsteht aber weder für den Architekten noch für die Kunden (SAP-Community) ein Mehrwert.
SAP-Transformations-Suite
SAP-CEO Christian Klein sollte sich unbedingt den Film „Der Bauch des Architekten“ von Regisseur Peter Greenaway aus dem Jahr 1987 ansehen, um zu lernen, dass das wirkliche Leben komplex und gefährlich sein kann, aber auch voller Überraschungen. Naturgemäß will Klein die Kontrolle mittels Transformations-Suite. Manchmal sind aber Kooperationen sinnvoller als rohe Gewalt, siehe den erwähnten Film von Greenaway. Der SAP-Community, die bereits LeanIX auch für viele Non-SAP-Applikationen einsetzt, wäre mit einer Übernahme durch SAP nicht geholfen. LeanIX wäre dann, wie Signavio, nur eine weitere Baustelle im SAP-Universum, aber ohne EAM-Mehrwert für die Bestandskunden.
Mit der geplanten Akquisition will SAP unbedingt die umfassende Transformations-Suite erzwingen. Damit soll den SAP-Bestandskunden geholfen werden, Veränderungen im Geschäftsumfeld einfacher zu bewältigen und ihre Geschäftsprozesse dauerhaft zu verbessern. SAPs geplante Lösungssuite zur Geschäftstransformation soll Bestandskunden einen umfassenden Überblick über Geschäftsprozesse und -anwendungen bieten, einschließlich der Abbildung von Prozessabhängigkeiten und der Darstellung der Auswirkungen potenzieller Transformationen auf ihre IT-Landschaft. LeanIX’ Fähigkeiten bei der Transformation von IT-Landschaften in Verbindung mit der Signavio-Prozess-Transformations-Suite, Rise with SAP und der SAP Business Technology Platform (BTP) sollen eine Kultur kontinuierlicher Anpassungsfähigkeit und Verbesserung schaffen.
„Seit über zehn Jahren stehen wir für einen sehr klar kundenorientierten Ansatz, für überragende Benutzerfreundlichkeit und eine nahtlose Integration des Ökosystems und haben uns so zu einem führenden Unternehmen in der Kategorie Enterprise Architecture Management entwickelt“, sagte André Christ, Mitgründer und CEO von Lean-IX, Anfang September. „Unsere Strategie ist es, Unternehmen in einem sich schnell verändernden Geschäftsumfeld ihre kontinuierliche Transformation zu ermöglichen. Mit einer integrierten, umfassenden Übersicht über IT-Anwendungen und Geschäftsprozesse beschleunigen wir die Modernisierung, reduzieren Transformationsrisiken.“
Es gibt ein Video von LeanIX-Co-Gründer André Christ und dem ehemaligen SAP-CFO Luka Mucic. Beide zeigen offen ihre Begeisterung für das jeweils andere Unternehmen und welcher enorme Vorteil für einen SAP-Bestandskunden aus dieser Partnerschaft entstehen kann. Reflexartig denkt der Betrachter an das Berliner Start-up Signavio von Gründer Gero Decker. Signavio wurde von SAP für etwa eine Milliarde Euro übernommen, um sich gegen das Münchner Einhorn Celonis zu rüsten. SAP, Signavio und Celonis sind eine andere Geschichte. Hier geht es um LeanIX und die Gier von SAP, alles kontrollieren zu wollen. Soeben hat SAP die Verträge mit den Hyperscalern gekündigt, weil SAP das Cloud Computing vollständig mit den eigenen Rechenzentren kontrollieren will. SAP kann nicht Partnerschaft! Jetzt übernimmt SAP das Start-up LeanIX wie zuvor Signavio für etwa eine Milliarde Euro. Weil SAP vom Wesen her nicht kooperieren kann, bleiben immer nur zwei Konsequenzen: Ausgrenzen oder Übernehmen. Eine Kooperation mit LeanIX, wie Luka Mucic sie eingefädelt hat, wäre wesentlich intelligenter.
Desinteresse und Panik
Die SAP-Community kennt das reflexartige Verhalten von SAP: Zuerst Desinteresse, eine Entwicklung wird verschlafen, dann Panik und wilder Aktionismus mit oft unüberlegten Handlungen. Natürlich hat SAP den CRM-Trend in Richtung Customer Experience verschlafen. In Panik kaufte man für acht Milliarden Euro das US-amerikanische Unternehmen Qualtrics. Naturgemäß konnte zuerst SAP-CEO Bill McDermott und später SAP-CEO Christian Klein damit keine Probleme lösen. Also wurde Qualtrics verkauft. Nur dem Geschick von Ex-SAP-CFO Luka Mucic ist zu verdanken, dass dieser Irrtum zumindest finanziell ein Gewinn war. Zuerst stand das Münchner Start-up Celonis auf der SAP-Preisliste, dann wollte sich Celonis partout von SAP nicht kaufen lassen. Tief beleidigt eliminierte SAP den einstigen Partner von der Preisliste und kaufte in einer Trotzreaktion das Berliner Start-up Signavio. Die Integration von Signavio in das SAP-Universum ist bis heute nicht geglückt. SAP Cloud ALM ist noch immer eine Baustelle. Aber Celonis hat mittlerweile eine Bewertung von 13 Milliarden Euro. Natürlich braucht SAP nach Signavio auch LeanIX, um eine glaubhafte Cloud-Computing-Story den Bestandskunden präsentieren zu können. SAP Cloud Application Lifecycle Management (ALM) ist eine unendliche Baustelle und ohne Enterprise Architecture Management von Lean-IX nur ein Versuch und keine Antwort. SAP braucht für ein konsistentes ALM nicht nur Signavio, sondern auch LeanIX und letztendlich auch Tricentis für das automatisierte Testen in der Public Cloud.