Clean Core und BTP im Tagesgeschäft


Unternehmen, insbesondere in der Energie- und Prozessindustrie, agieren in einem Umfeld wachsender Komplexität. Die Erwartungen an technologische Innovation steigen, während regulatorische Anforderungen zunehmend die IT-Infrastruktur betreffen. Gleichzeitig verlangen Kunden und Partner durchgängige, digitale Prozesse mit hoher Transparenz und Geschwindigkeit. Viele Unternehmen stehen jedoch vor der Herausforderung, dass ihre ERP-Systeme über Jahre hinweg individuell angepasst wurden und nun eine erhebliche Hürde für Veränderungen darstellen. Solche Systeme sind häufig wenig updatefähig, schwer erweiterbar und verursachen einen hohen Betriebs- und Wartungsaufwand. Die Einführung neuer Funktionen oder Technologien ist oft nur mit erheblichem personellem und finanziellem Aufwand möglich. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie Unternehmen diesen Herausforderungen begegnen können, ohne ihre gesamte Systemlandschaft grundlegend zu ersetzen.
Strategische Antwort: Clean Core
Die Clean-Core-Strategie bietet einen klar strukturierten Lösungsweg. Sie verfolgt das Ziel, den SAP-Kern – also die zentrale ERP-Funktionalität – möglichst unverändert zu lassen. Statt individueller Modifikationen im SAP-Standard sollen Erweiterungen über definierte, upgradesichere Schnittstellen realisiert werden. Auf diese Weise bleiben Systeme wartbar, upgradesicher und langfristig kosteneffizient. Die technologische Grundlage bilden standardisierte Erweiterungspunkte wie Business Add-Ins (BADIs), Core Data Services (CDS), ODATA-Schnittstellen und moderne UI-Technologien wie SAP Fiori. Funktionalitäten, die früher tief in den Systemkern integriert wurden, werden nun als sogenannte Side-by-Side Extensions auf externen Plattformen realisiert – vor allem auf der SAP Business Technology Platform. Diese Architektur ermöglicht es, individuelle Anforderungen abzubilden, ohne dabei die Integrität des Kernsystems zu gefährden.
BTP als Erweiterungsplattform
Die SAP BTP ist eine zentrale Komponente der Clean-Core-Strategie. Sie bietet eine einheitliche Umgebung für Entwicklung, Integration, Datenmanagement, Analytik und künstliche Intelligenz. Anwendungen, Daten und Prozesse können hier flexibel und skalierbar aufgebaut und verwaltet werden. Die Plattform unterstützt sowohl SAP- als auch Non-SAP-Systeme und kann in der SAP Cloud oder auf Hyperscaler-Infrastrukturen wie Amazon Web Services, Microsoft Azure oder Google Cloud Platform betrieben werden.
Mit der BTP wird die technische Grundlage geschaffen, um Erweiterungen außerhalb des Kern-ERP zu entwickeln und gleichzeitig eine tiefe Integration sicherzustellen. Über zentrale Dienste wie die SAP Integration Suite, das SAP Event Mesh oder die SAP Extension Suite können Prozesse nahtlos orchestriert und Daten semantisch verknüpft werden. Die entstehende Datenbasis – die sogenannte Business Data Fabric – ist nicht nur konsistent, sondern auch KI-fähig. Das bedeutet, dass Daten nicht nur gespeichert, sondern aktiv genutzt werden können – etwa zur Mustererkennung, Prozessautomatisierung oder Entscheidungsunterstützung.
Zur Veranschaulichung wird oft das Bild eines modularen Baukastensystems verwendet. Die Grundidee ist klar: Wird ein einzelner Baustein verändert, kann dies zu Inkompatibilitäten mit zukünftigen Systemupdates führen. Wird ein Baustein verändert, kann dies dazu führen, dass nachfolgende Updates nicht mehr passen – genau wie ein angepasster Legostein nicht mehr ins System passt. Clean Core sorgt dafür, dass alle Komponenten des ERP-Systems standardisiert und kompatibel bleiben. So können neue Bausteine – etwa Erweiterungen auf der BTP – einfach hinzugefügt oder aktualisiert werden, ohne die Stabilität des Gesamtsystems zu gefährden.
Erfahrungen aus der Praxis
Implico, ein SAP-Solex-Partner mit Spezialisierung auf unternehmenskritische Softwarelösungen für die Energie- und Prozessindustrie, setzt das Clean-Core-Prinzip konsequent um. Bestehende Anwendungen wie Secondary Distribution Management (SDM) und Retail Fuel Network Operations (RFNO) wurden SAP-konform weiterentwickelt und basieren heute auf standardisierten Integrationspunkten. Die Dispatch Management Engine, ein zentrales Steuerungselement, wurde über moderne APIs geöffnet. Externe Tools – etwa zur Tourenplanung oder Disposition – können direkt darauf zugreifen, ohne dass der SAP-Kern verändert werden muss.
Ein aktuelles Beispiel ist die Entwicklung von AddTCO, einer BTP-basierten Erweiterung, die maschinelles Lernen zur Optimierung von Lieferketten nutzt. Die Lösung analysiert historische Tourendaten und schlägt auf Basis aktueller Rahmenbedingungen wie Verkehrsaufkommen oder Wetter optimierte Routen vor. Dadurch lassen sich Transportkosten senken und der CO₂-Fußabdruck reduzieren. Die Lösung ist so konzipiert, dass sie ohne großen Aufwand in bestehende Systemlandschaften integriert werden kann – ein entscheidender Vorteil für Kunden mit bestehenden SDM-Installationen.

SAP Business AI Portfolio.
Betriebswirtschaftlicher Nutzen
Die Einführung von Clean Core ist nicht nur eine technische Maßnahme, sondern ein wirtschaftlicher Enabler. Unternehmen profitieren durch eine höhere Geschwindigkeit bei der Einführung neuer Funktionen, da technische Altlasten nicht mehr berücksichtigt werden müssen. Gleichzeitig verbessern sich die Datenqualität und -verfügbarkeit, da alle Anwendungen auf eine konsolidierte Datenbasis zugreifen. Die SAP Business Data Cloud ermöglicht es, Daten semantisch zu verknüpfen, sodass etwa die KI-Lösung SAP Joule auf diese zugreifen kann. Analysen, Vorhersagen und Prozessautomatisierungen werden dadurch deutlich effizienter. Auch im Hinblick auf Total Cost of Ownership (TCO) bringt Clean Core Vorteile: Neue Applikationen können schneller ausgerollt werden, Erweiterungen sind einfacher zu warten und System-Upgrades verursachen weniger Konflikte.
Darüber hinaus verbessert sich die Sicherheit. Jede Erweiterung ist strukturiert dokumentiert und entspricht den Anforderungen an sichere Softwareentwicklung. Da keine tiefgreifenden Änderungen im SAP-Standard vorgenommen werden, bleibt die Systemintegrität erhalten. Für Unternehmen mit sensiblen Prozessen – wie etwa in der Energiebranche – ist dies ein wesentliches Argument.
Die Einführung von Clean Core bedeutet nicht zwangsläufig eine vollständige Migration in die Cloud. Vielmehr ermöglicht der Ansatz hybride Szenarien. So können On-premises-Systeme wie SAP ECC oder S/4 Hana mit cloudbasierten Erweiterungen kombiniert werden. Diese Flexibilität erlaubt es Unternehmen, die Transformation schrittweise und bedarfsgerecht zu gestalten. Besonders im industriellen Umfeld, wo stabile Prozesse und langfristige Investitionszyklen dominieren, ist ein hybrider Ansatz oft die pragmatischere Lösung. Die SAP BTP unterstützt diese Szenarien, indem sie sowohl mit älteren SAP-Systemen als auch mit modernen Cloud-Lösungen nahtlos interagieren kann.
Strategische Ausrichtung
Implico plant, den Clean-Core-Ansatz auch auf angrenzende Branchen mit vergleichbaren Anforderungen auszuweiten. Neue Lösungen werden ebenfalls auf Side-by-Side-Architekturen basieren, KI-Elemente integrieren und über standardisierte Schnittstellen bereitgestellt. Dabei steht nicht nur die technische Machbarkeit im Fokus, sondern auch der betriebliche Nutzen. Ziel ist es, Lösungen zu schaffen, die einfach integrierbar, skalierbar und wartbar sind – unabhängig vom individuellen Reifegrad der Kunden-IT.
Fazit
Clean Core steht für einen Paradigmenwechsel in der SAP-Welt. Es geht nicht nur um technische Konsolidierung, sondern um eine strategische Neuausrichtung auf Effizienz, Skalierbarkeit und Innovation. Für Unternehmen bedeutet dies, sich von historisch gewachsenen Altlasten zu lösen und den Weg in eine moderne, cloudfähige Systemlandschaft zu beschreiten. Der Ansatz ermöglicht es, schneller auf Marktveränderungen zu reagieren, neue Technologien effizient zu integrieren und gleichzeitig Betriebskosten zu senken. Clean Core ist damit nicht nur eine Architekturentscheidung – es ist ein zukunftsorientiertes Modell zur digitalen Transformation der Unternehmens-IT.