Exklusivinterview: „Respekt ist keine Excel-Zahl“


E3: Herr Younosi, warum lohnt es sich auch aus ganz pragmatischen Gründen, auf Vielfalt und Chancengleichheit zu setzen?
Cawa Younosi, Charta der Vielfalt: Der demografische Wandel ist real. Es fehlen Millionen Fachkräfte. Wenn Unternehmen 30 Prozent der Bevölkerung – zum Beispiel mit Migrationshintergrund – ignorieren, schließen sie sich selbst vom Talentmarkt aus. Diversity ist kein Selbstzweck – sondern betriebswirtschaftlich notwendig. Aber: Es sollte nie ausschließlich als Business Case argumentiert werden. Denn Respekt ist keine Excel-Zahl, sondern eine Haltung.

Cawa Younosi, Geschäftsführer, Charta der Vielfalt e. V.
E3: Wenn wir uns im IT-Umfeld bewegen, ist Vielfalt in den meisten Unternehmen bereits angekommen. Viele Expertinnen und Experten mit Migrationshintergrund arbeiten in technischen Berufen. Sehen Sie hier dennoch einen Handlungsbedarf, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?
Younosi: Das stimmt, gerade in der IT – etwa in der SAP-Beratung – zählen Kompetenzen. Aber: Diese Menschen finden sich selten in Vorständen oder Topmanagement-Positionen. Es gibt Ausländer in DAX-Vorständen – aber oft sind das internationale Manager, nicht Menschen mit Wurzeln in der deutschen Einwanderungsgesellschaft. Die gläserne Decke ist also real – wie bei Frauen – und spürbar.
E3: Vielfalt ist ja mehr als nur Geschlecht oder Herkunft. Welche Dimensionen berücksichtigt die Charta?
Younosi: Wir sprechen von sieben Kerndimensionen: Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht, körperliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orientierung sowie soziale Herkunft. Diese greifen oft ineinander – das nennen wir Intersektionalität. Und genau das macht Vielfalt so komplex und so wichtig. Es geht nicht um Karneval oder „Regenbogen-Rhetorik“, sondern um echte Chancengerechtigkeit – im Sinne von Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes.
E3: In den USA ziehen sich einige Techunternehmen aus öffentlich sichtbaren Diversity-Zielen zurück. Was ist da los?
Younosi: Das hat viel mit politischen und rechtlichen Entwicklungen zu tun. Nach Gerichtsurteilen in den USA werden Repräsentationsziele teilweise zurückgenommen – aus Angst, man könne wegen „Diskriminierung weißer Bewerber“ belangt werden. Aber das betrifft vor allem die Außendarstellung. Intern bleibt vieles erhalten. Accenture und McDonald’s haben öffentlich ihre Ziele angepasst – aber intern halten sie an ihren Diversity-Strategien fest. Und das gilt auch für viele Unternehmen in Deutschland.
E3: Also kein echter Rückschritt?
Younosi: Nein. Die allermeisten Unternehmen wissen, dass Vielfalt nicht nur moralisch geboten ist, sondern auch wirtschaftlich notwendig. Wer das Thema jetzt komplett streicht, verliert mittelfristig den Anschluss am Arbeitsmarkt. Wir sehen bei uns – bei der Charta der Vielfalt – sogar neue Mitglieder, die trotz amerikanischer Eigentümer ganz bewusst ein Zeichen setzen und beitreten. Das ist ein klares Signal: Die Debatte wird in Deutschland anders geführt – und das ist auch gut so.
E3: Wie hat sich die Ausrichtung der Charta seit Ihrem Eintritt verändert?
Younosi: Ich komme als Einziger direkt aus der Wirtschaft und habe den Fokus auf Wirksamkeit und Austausch vor Ort gelegt – weniger Publikationen, mehr Dialogformate, Best-Practice-Sharing, Vernetzung. Gerade weil das Thema „Diversity“ derzeit in Teilen der Öffentlichkeit unter Druck steht – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Uns geht es darum, das Narrativ zu versachlichen und Vielfalt wieder als Wertefrage zu verstehen – und nicht als Überschrift für Marketing oder oberflächliche Versprechen.
E3: Sie thematisieren immer wieder, dass Inklusion nicht nur eine Frage der Gerechtigkeit ist, sondern dass der Gesellschaft auch viel Potenzial verloren geht. Passiert das vor allem im Recruiting oder in der internen Entwicklung?
Younosi: Beides. In Deutschland haben sechs Millionen Menschen keinen Berufsabschluss – das ist ein riesiges Potenzial. Gleichzeitig tun sich viele Unternehmen schwer, von abschlussbasiertem Recruiting auf skillsbasiertes umzusteigen. In der IT ist das eher möglich, weil Technologie Wandel gewohnt ist. Aber in klassischen Branchen fehlt oft das Umdenken. Es braucht mehr Offenheit für Quereinsteiger und mehr Mut zur Förderung von Talenten jenseits der klassischen Lebensläufe.
E3: Was heißt das konkret?
Younosi: Arbeitgeber können nicht die individuellen Lebensentwürfe der Menschen ändern. Das ist auch nicht der Auftrag von Arbeitgebern, zu missionieren, welche Lebensmodelle hilfreich sind oder besser für die Wirtschaft sind oder nicht. Wie haben sich die Lebensentwürfe, insbesondere was das Thema Frauen, Care-Arbeit, Familie und Karriere angeht, geändert? Da muss man feststellen, dass sich im Jahr 2025 immer noch die deutliche Mehrheit der Familien oder Paare für traditionelle Muster entscheidet. Es ist wie festgefroren und das hindert. Und das erschwert natürlich das Unternehmen. Wenn man sagt: Ich will mehr Frauen in Führungspositionen haben, wenn die Menschen sich bewusst entscheiden. Ich meine nicht, dass sie nicht können. Es gibt auch welche, die wollen, aber können nicht oder können es sich nicht leisten. Viele entscheiden sich bewusst, dann kann man auch am Unternehmen nicht viel ändern. Wenn zum Beispiel die Frau entscheidet, zu Hause zu bleiben, dann gibt es ein Riesenpotenzial. Verschwendung im Bildungssystem. Das fängt schon nach dem Kindergarten an. Von 100 Kindern, die in die Grundschule in Deutschland eingeschult werden, schaffen 75 Abitur, wenn die Eltern Akademiker sind. Wenn die Eltern keine Akademiker sind, dann schaffen es gerade mal 25. Das ist ein Riesen-Gap. Allein wo man geboren ist und wie man in die Schule kommt. Und das geht dann weiter mit der Schulabbrecherquote. Die ist in Deutschland seit Jahren ungefähr bei sechs Prozent.
E3: Was läuft falsch im Recruiting?
Younosi: In vielen Unternehmen wird immer noch in vielen Bereichen nicht über Zeugnisse hinaus klassisch traditionell rekrutiert. Also, es sind kaum Manager, die zum Beispiel durch eine Unconscious-Bias-Schulung gegangen sind, um zu wissen, welchen unbewussten Vorurteilen man ausgesetzt ist. Das klingt erst mal nach Nice-to-have, ist es aber nicht.
E3: Viele Lebensläufe wirken auf den ersten Blick „rund“ – aber andere erzählen erst auf den zweiten Blick ihre eigentliche Stärke?
Younosi: Es gibt klassische Wege – Praktika bei namhaften Unternehmen, Auslandserfahrung, glänzende Stationen. Und dann gibt es andere Geschichten, die nicht so poliert sind, aber oft viel mehr über Charakter, Verantwortung und Belastbarkeit aussagen. Ich erinnere mich an eine Bewerberin bei SAP. Ihr Lebenslauf war lückenhaft – bis wir genauer hinschauten. In der Zeit zwischen Schule und Studium hatte sie den kleinen Lebensmittelladen ihrer Eltern übernommen, weil ihre Mutter schwer erkrankt war. Einkauf, Buchhaltung, Personalverantwortung – mit 18. Das ist unternehmerisches Denken pur.
E3: Aber das steht selten in Bewerbungen, oder?
Younosi: Genau das ist das Problem. Hätte sie das geschrieben – „Übernahme des Gemüseladens meiner Eltern“ –, wäre sie vielleicht direkt aussortiert worden. Stattdessen gilt ein dreimonatiges Praktikum bei einer Unternehmensberatung als attraktiver. Das zeigt: Wir brauchen mehr Sensibilität im Recruiting. Wenn ich weiß, dass nicht jeder die gleichen Startbedingungen hat, frage ich nach.
E3: Was kann man als Unternehmen konkret tun?
Younosi: In erster Linie: Führungskräfte sensibilisieren. Unconscious Bias ist real – und verhindert, dass Potenziale gesehen werden. Wir haben bei SAP Workshops dazu gemacht. Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit echten Beispielen. Wenn ich lerne, hinter die Fassade zu schauen, entdecke ich oft Talente, die ich sonst übersehen hätte – weil sie nicht in das übliche Raster passen.
E3: Es heißt auch immer wieder, dass Netzwerke weißer Männer bei der Karriere innerhalb von Unternehmen eine Rolle spielen. Deckt sich das mit Ihrer Erfahrung?
Younosi: Marginalisierte Menschen kommen mit so gut wie keinem Netzwerk. Andere wiederum haben zusätzliche Vorteile über ihre Akademikereltern, unabhängig von der Herkunft. Netzwerke und wie man damit umgeht, ist also schon ein Thema. Was mir persönlich auch begegnet ist in den ersten Jahren, als ich überhaupt reingekommen bin: Meine Kollegen damals haben sich über Tennisturniere unterhalten und teilweise über Golf. Ich war blank, ich konnte weder mit Golf was anfangen noch mit denen reden oder sonst was. Das muss gar nicht absichtliche Diskriminierung sein, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass Menschen dazu neigen, die, die ihnen ähnlich sind, eher zu fördern. Wenn ich erzählt hätte, dass mein Vater auf der Flucht in Turkmenistan verstorben ist und ich seine Beerdigung organisieren musste oder meine Mutter in die Türkei abgeschoben worden ist, hätte ich schwer Gesprächspartner mit ähnlichen Erfahrungen gefunden. Ähnliche Erfahrungen machen auch andere marginalisierte Menschen.
E3: Heute sprechen Sie sehr offen über Ihre Geschichte. War das für Sie immer so klar, dass das notwendig ist, um jungen Menschen ein Vorbild zu sein?
Younosi: Denken Sie an Podien, Panels oder Führungsetagen. Wenn dort ausschließlich Männer oder Menschen ohne Migrationsgeschichte sitzen, dann entsteht ein stilles Signal: „Du gehörst hier nicht hin.“ Das ist kein Symbolismus – das ist reale Ausgrenzung. Ich habe das selbst erlebt. 2015/16 wurde ich zum ersten Mal von der FAZ gefragt, ob ich meine Geschichte aufschreiben möchte. Ich habe lange überlegt, weil ich bis dahin gesagt hatte, ich würde aus Kolumbien kommen, obwohl ich 1990 als Wirtschaftsflüchtling ohne Eltern aus Afghanistan gekommen war. Ich wollte nicht als mittelloser Asylant wahrgenommen werden. Als die Anfrage von der FAZ kam, war ich schon Personalchef bei SAP Deutschland. Ich habe mich dann überwunden und bekomme so viele Zuschriften und Mails etc. von Menschen, die auch Migrationshintergrund haben.
E3: Das zeigt, wie wichtig Repräsentation und Vorbilder sind …
Younosi: Ja, das hat eine enorme psychologische Wirkung. Wenn ich in den Führungsetagen nur „Christian“, „Thomas“ oder „Andreas“ sehe, komme ich als „Aisha“ oder „Mohammed“ nicht auf die Idee, dass ich da jemals dazugehören könnte. Das ist kein Vorwurf, sondern ein strukturelles Problem. Die gläserne Decke betrifft nicht nur Frauen – auch Menschen mit Migrationshintergrund erreichen bestimmte Ebenen einfach nicht. Es gibt zwar ausländische Manager in DAX-Vorständen – aber die kommen oft aus den USA, Frankreich oder England. Die Migranten, die in Deutschland leben, sind dort kaum vertreten.
E3: Was ist Ihr Appell an Führungskräfte?
Younosi: Sichtbarkeit zeigen. Empathie zeigen. Und vor allem: zuhören. Wenn marginalisierte Mitarbeitende gesehen und ihre Realität wahrgenommen wird, entsteht Bindung – und Engagement. Nicht alles braucht sofort Programme oder Strategien. Manchmal reicht ein ehrlicher Satz wie: Ich sehe euch. Das macht den Unterschied.